Interview mit turi2: Nadja Scholz über Zensur und Konstruktiven Journalismus | Presse | DW | 19.12.2022
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Presse

Interview mit turi2: Nadja Scholz über Zensur und Konstruktiven Journalismus

Die neue DW-Programmdirektorin Nadja Scholz zieht im Gespräch mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow Jahresbilanz.

Probleme und Lösungen: Das Interesse daran, wie Deutschland mit Krieg, Klimakrise und wachsendem Populismus umgeht, ist im Ausland sehr groß, sagt Nadja Scholz. Die neue Programmdirektorin der Deutschen Welle zieht im Interview mit turi2 Jahresbilanz und erklärt, dass es die Medienschaffenden des deutschen Auslandssenders vor allem in China, Russland, der Türkei und im Iran in diesem Jahr besonders schwer hatten. Scholz sagt auch, dass der Sender nicht nur Probleme benennt, sondern auch Lösungsansätze liefert, um den Menschen zu zeigen, dass "wir sie nicht mit den Problemen der Welt alleine lassen". Und sie erklärt, warum TikTok, Instagram und andere soziale Medien für die Arbeit der DW wichtig sind.

Nadja Scholz, Sie sind Programmdirektorin der Deutschen Welle, dem Auslandssender Deutschlands, haben also viel mit ausländischen Medien und Medienschaffenden zu tun. Wie blickt die Welt auf Deutschland im Jahr 2022?
 
Das ist von Region zu Region unterschiedlich. Insgesamt ist das Interesse enorm, wie Deutschland sich als größte Volkswirtschaft Europas in einer Welt von wachsendem Populismus, Krieg in der Ukraine und Inflation positioniert. Innerhalb Europas und darüber hinaus. In großen Politikfeldern wie Klima-, Außen- oder Verteidigungspolitik wünschen sich viele, dass Deutschland klarere Akzente setzt und eine stärkere politische Führungsrolle übernimmt.
Darüber hinaus gibt es ein sehr großes Interesse, wie die deutsche Gesellschaft mit diesen Herausforderungen umgeht. Das Leben vieler Menschen in unseren Zielländern hat sich in diesem Jahr zum Teil dramatisch verschlechtert, sie erfahren täglich dysfunktionale politische Systeme, korrupte Strukturen, Einschüchterung durch die Staatsgewalt und einen eklatanten Mangel an freien Informationen. Deutschland steht für viele Menschen nicht zuletzt auch dafür, offen über Missstände zu sprechen und als Gesellschaft gemeinsam Lösungen zu finden. Das ist, global gesehen, durchaus ein Luxus, und hier setzen wir als DW an. Unser Markenkern "Freie Informationen für freie Entscheidungen" meint genau das: Menschen mit unabhängigen Informationen dabei zu unterstützen, dass sie sich eigene Meinung bilden und diese in ihre gesellschaftlichen Debatten einbringen können.

Wie haben die multiplen Krisen Ihre Arbeit dieses Jahr verändert?

Die Krisen haben unseren journalistischen Alltag noch anstrengender, zum Teil auch atemloser gemacht. Aktuelle Krisen fordern eine aktuelle Berichterstattung, damit sich die Menschen unabhängig über die Lage in ihren Ländern informieren können. Wir müssen aber gleichzeitig darauf achten, dass wir trotz der notwendigen Aktualität ausreichend Hintergründe und Erklärungen liefern, denn auch das ist ein wichtiger Teil der Meinungsbildung. Wir machen klar, dass es immer auch um Menschen geht, und erzählen die Geschichten hinter den Schlagzeilen. Das erfordert trotz allem aktuellen Druck genug Zeit für Recherche und Faktenchecks. Dies müssen wir unseren Journalistinnen und Journalisten ermöglichen. Uns ist außerdem wichtig, dass unsere Berichterstattung nachhaltig ist. Wenn wir wochenlang immer wieder über die schwierige Situation in den Flutgebieten Pakistans berichten, darf das Thema nicht plötzlich beendet sein, sondern wir müssen auch viele Monate später schauen, wie es den Menschen dann geht.

Die Deutsche Welle betreibt Standorte in Bonn und Berlin – hier entstehen die meisten Programme. Wie gestaltet sich der Kontakt mit Journalistinnen und Informanten im Ausland?

Wir haben unser Netz von Studios, Büros und Korrespondentenplätzen im Ausland in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut. Nur wenn wir vor Ort sind und die relevanten Geschichten finden und erzählen, können wir wirklich etwas zum Leben der Menschen dort beitragen. Dieses Netzwerk werden wir ausbauen und es ist nicht von unseren Standorten in Deutschland zu trennen, sondern eng mit ihnen verwoben. Und das aus gutem Grund. Nur wenn wir unsere deutsche und europäische Perspektive mit den Themen in unseren Zielländern zusammenbringen, hat unsere Berichterstattung einen Mehrwert. Wir berichten zum Beispiel über gesellschaftliche Tabus, über Korruption oder Umweltkriminalität in unseren Zielländern. Das können Journalistinnen und Journalisten nationaler Medien vielfach gar nicht, ohne sich in Gefahr zu bringen.

Wo haben es Ihre Journalistinnen und Journalisten besonders schwer?

In sehr vielen Ländern aktuell. Die Arbeit, die wir machen, wird von vielen Regierungen als sehr bedrohlich empfunden. Die russischen Behörden haben im Februar die Schließung unseres Studios in Moskau erzwungen, wir arbeiten jetzt aus Riga. Aus der Ukraine berichten wir weiterhin, aber unter strengen Sicherheitsvorkehrungen. Ende Juni sperrte die türkische Medienaufsicht den Zugang zur DW-Webseite. Im Iran und in China sind unsere Ausspielwege seit Jahren blockiert. Die Kolleginnen und Kollegen in unserer Farsi-Redaktion haben es gerade besonders schwer. Ihnen wird vom iranischen Regime vorgeworfen, "Terroristen zu unterstützen". Sie werden bedroht, ebenso ihre Familien in ihrer Heimat.

Ich weiß von Gesprächen mit deutschen Kriegs- und Krisenreporterinnen, dass sie zwar auch unter Druck stehen, aber von Regimen oft etwas besser behandelt werden als einheimische Medienschaffende. Wie schützen Sie Ihre einheimischen Mitarbeitenden?

Was den Schutz unserer Journalistinnen und Journalisten betrifft, machen wir selbstverständlich keinen Unterschied zwischen einheimischen und deutschen Mitarbeitenden. Wir haben ein eigenes, sehr gut ausgebildetes Security-Team, dass alle Kolleginnen und Kollegen intensiv berät und Reportereinsätze manchmal auch begleitet. Die Sicherheit aller Mitarbeitenden hat für uns höchste Priorität. Es kann aber notwendig sein, dass einheimische Mitarbeitende ihre Beiträge nur unter Pseudonym veröffentlichen, weil sie sonst Repressalien gegen sich oder ihre Familien befürchten müssen. Das kann in China, Iran, Afghanistan, Russland und auch einigen anderen Ländern der Fall sein. Wenn es nötig ist, machen wir das zum Schutz unserer Mitarbeitenden und kennzeichnen es entsprechend.

Wie erreichen Sie die Menschen, wenn die staatliche Zensur in Ihren Zielländern zuschlägt?

In vielen Ländern sind zwar unsere eigenen Plattformen gesperrt, wir erreichen die Menschen aber oft weiterhin über die sozialen Medien. Zum Beispiel die Menschen in Iran über Instagram. Seit Oktober 2022 ist die Nutzung von DW Farsi um über 400 % gestiegen. Besonders die junge Generation sucht und kennt Wege, sich zu informieren und wir treffen sie dort mit unseren Inhalten. Zusätzlich setzt die DW auch technische Tools zur Zensurumgehung ein, über die Nutzende die DW-Webseite trotz Zensur erreichen können, zum Beispiel in Russland, der Türkei, China oder eben in Iran. Das ist auch keine Einbahnstraße. Aus Iran erreichen die Farsi-Redaktion täglich Videos und Informationen, so genannter User Generated Content, die sie nach Einordnung und Faktencheck für ihre Berichterstattung nutzt.

In Deutschland sind es nicht Verbote und Blockaden, die es Medien schwer machen, sondern eine zunehmende News-Verdrossenheit, angesichts der Weltlage und der Medienwandel. Betrifft Sie das auch?

Ja, das beobachten wir in vielen Ländern auch. Angesichts der zahlreichen Krisen finde ich das menschlich auch nachvollziehbar. Die Deutsche Welle setzt deshalb, wie viele Wettbewerber, auf konstruktiven Journalismus und hat sogar als Gesellschafterin eine gemeinnützige Netzwerkorganisation für konstruktiven Journalismus, das Bonn Institute, mitbegründet. Bald startet in der DW ein Constructive Journalism Fellowship für zehn Mitarbeitende. Konstruktiver Journalismus bietet Methoden für eine Berichterstattung, die über Konflikte und Krisen hinausgeht, indem sie Lösungsansätze und Fortschritt in den Fokus nimmt. Damit wollen wir das Interesse der Menschen an der Welt wachhalten und das Vertrauen in unsere Berichterstattung stärken, weil wir sie nicht mit den Problemen der Welt alleine lassen. Es geht dabei nicht darum, die Welt schön zu färben, sondern darum, dass nicht nur die Probleme und extremen Konflikte der Welt einen Nachrichtenwert haben, sondern auch innovative Lösungsansätze und Zwischentöne.

Eines der großen Trend-Medien ist TikTok – die chinesische App blockiert unliebsame Hashtags und Accounts. Sind die DW-Inhalte dort deshalb eher unverfänglich?
 
Die TikTok-App ist für uns einer von vielen digitalen Ausspielwegen und in vielen unserer Zielregionen populär, zum Beispiel in Indonesien oder im arabischen Raum. Wir wollen unsere Nutzenden als verlässliche, unabhängige Quelle da erreichen, wo sie nach Informationen suchen und die Plattformen nicht Propaganda und Desinformtion überlassen. Deshalb produzieren wir Inhalte für TikTok. Die DW verfolgt aber grundsätzlich eine Multiplattformstrategie, setzt also nie nur auf eine oder wenige Plattformen, um sich nicht abhängig zu machen.
Unser Journalist Jaafar Abdul Karim, der durch seine Sendung "Jaafar Talk" sehr bekannt geworden ist, erzielte mit dem arabischsprachigen TikTok-Account seiner Sendung allein im vergangenen Monat rund 90 Mio Video-Abrufe. Das sind allerdings keine "unverfänglichen" Inhalte, wie Sie es nennen, sondern teilweise sehr brisante oder konfliktträchtige Themen, denn Jaafar spricht gezielt Themen an, die im arabischen Raum eher tabuisiert sind. Natürlich haben wir auf anderen Accounts auch eher unterhaltende Beiträge, aber auch dort wird Information vermittelt. Ich bin manchmal selbst überrascht, wie viel Information in 30 Sekunden passt.

Die DW beschäftigt viele Menschen mit unterschiedlichsten Biografien aus vielen Teilen der Welt. Da prallen auch schon mal völlig unterschiedliche politische Meinungen aufeinander. Wie schaffen Sie ein angenehmes Arbeitsklima? Politische Diskussionen am Arbeitsplatz zu verbieten, wie Meta es kürzlich getan hat, ist für ein Journalismus-Unternehmen ja keine Lösung…

Nein, das ist keine Lösung und das würde auch absolut unserem demokratischen und freiheitlichen Grundverständnis widersprechen. Wir wollen ja Debatten anstoßen und diese auch selber führen, transparent, respektvoll, offen und lösungsorientiert. Wir haben als DW einen Code of Conduct, den alle Mitarbeitenden bekommen, die für die DW arbeiten. Hier haben wir für uns definiert, wie wir miteinander umgehen wollen. Die verschiedenen Perspektiven und Biographien, die unsere Mitarbeitenden mitbringen, sind für mich ein großer Schatz, denn sie ermöglichen uns eine perspektiven- und kenntnisreiche Berichterstattung. Die Zusammenarbeit ist außerdem persönlich sehr bereichernd.

Wie blicken Sie auf das kommende Jahr, das, wenn man den Prognosen glaubt, wieder ein Krisenjahr werden wird?

Persönlich natürlich auch mit Respekt und einer gewissen Sorge. Letztendlich bin ich nicht nur Programmdirektorin, sondern auch Mutter und wünsche mir für meine Kinder eine lebenswerte Welt. Als Programmdirektorin kann ich sagen, dass wir gut vorbereitet sind. Wir berichten als DW gezielt für Länder, in denen die Situation schwierig ist, weil die Menschen uns gerade dort brauchen. Darin sind wir Profis und das werden wir auch weiterhin mit aller Kraft machen.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Der Mut der Menschen in unseren Zielländern. Sie nehmen große Risiken auf sich, nur um sich frei zu informieren und sich eine Meinung zu bilden. Das finde ich zutiefst bewundernswert.

EINSCHRÄNKUNG DW Personenfoto | Corporate Communications | Carla Hagemann

Carla Hagemann

Corporate Spokesperson and Head of Corporate Communications

 

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