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Afghanistan: Wie der BND die Taliban unterschätzte

29. September 2023

Der Bundesnachrichtendienst hat mit dem Fall Kabuls gerechnet, allerdings nicht so schnell. Das berichtet ein Zeuge im Untersuchungsausschuss des Bundestags.

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Fünf mit Maschinengewehren bewaffnete Taliban-Kämpfer posieren nach der Machtübernahme in Afghanistan im August 2021 auf dem Flughafen von Kabul.
Taliban-Kämpfer im August 2021 beim Kabuler Flughafen, nachdem die internationalen Truppen Afghanistan verlassen habenBild: Wakil Kohsar/AFP/Getty Images

Von Widerstand ist wenig zu sehen, als die radikalislamischen Taliban im August 2021 in Afghanistan an die Macht zurückkehren. Die hatten sie 20 Jahre zuvor verloren, nachdem eine von den USA angeführte Militärkoalition in dem Land interveniert hatte. Die Militärmission war eine Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York gewesen.

Vom schnellen Siegeszug der Taliban zeigt sich damals auch die deutsche Bundesregierung überrascht, nachdem der damalige Außenminister Heiko Maas noch kurz zuvor das Gegenteil prognostiziert hat. Seine Fehleinschätzung wirft die Frage auf, welche Informationen der für die Aufklärung im Ausland zuständige Bundesnachrichtendienst (BND) über den Vormarsch der Islamisten auf die afghanische Hauptstadt Kabul hatte.

Das Logo des BND: der Bundesadler mit gespreizten Flügeln, eingerahmt vom Schriftzug "Bundesnachrichtendienst".
Der deutsche Auslandsgeheimdienst BND wurde vom schnellen Vormarsch der Taliban in Afghanistan überrascht (Symboldbild)Bild: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance

Der Name des BND-Zeugen bleibt geheim

Antworten darauf erhofft sich auch der seit 2022 tagende Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags zu dem Thema. Groß ist die Erwartung der Abgeordneten aller Fraktionen, wenn ein Zeuge aus dem Geheimdienst auftritt. Einer wie der ehemalige Afghanistan-Regionalbeauftragte des BND, dessen Name in der teilweise öffentlichen Befragung am 28. September unerwähnt bleibt, um ihn nicht zu gefährden.

Über seine Person erfahren der Untersuchungsausschuss und das Publikum auf der Zuschauer- und Pressetribüne nur wenig: Nach 35 Jahren bei der Bundeswehr habe er zuletzt elf Jahre dem BND gedient. Sein Spezialgebiet: Fernmeldeaufklärung. In Afghanistan sei er mehrmals gewesen, bis zu einer Woche hätten die Aufenthalte gedauert. Die Expertise eines solchen Mannes ist im Bundeskanzleramt besonders gefragt.

Regelmäßige Gesprächsrunden im Kanzleramt

Dort, in der Berliner Regierungszentrale, finden regelmäßig Besprechungen zur Sicherheitslage statt. Dabei geht es um Gefahren, auf die sich Deutschland einstellen muss – nicht nur in Afghanistan, sondern überall auf der Welt, zu jeder Zeit. Vor allem dort, wo Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Auslandseinsätzen sind und dabei im schlimmsten Fall ums Leben kommen. 

Gedenkakt für Afghanistan-Einsatz

Der Zeuge schildert, wie sich aus seiner Sicht die Lage nach dem sogenannten Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban vom Februar 2020 entwickelt: "Als Soldat sagen wir, ist das eine wesentliche Lageveränderung." Kernpunkt dieses Vertrags, der ohne Beteiligung der regulären afghanischen Regierung geschlossen wurde, war der mittelfristige Abzug der amerikanischen Truppen.

Das Doha-Abkommen demoralisiert die afghanische Armee 

"Damit ist die Unterstützung der afghanischen Streitkräfte weggebrochen", sagt der Zeuge. Vor allem die plötzlich fehlende Luftunterstützung durch die USA habe die afghanischen Truppen demoralisiert. Die Folge: Sie hätten ihre Kasernen nicht mehr verlassen. Dennoch ist auch der hochrangige BND-Mann von der Geschwindigkeit überrascht, mit der die Taliban Kabul einnehmen.

Dass die Islamisten am Ende triumphieren würden, daran zweifelte nach dem Doha-Abkommen auf politischer wie militärischer Ebene offenkundig niemand mehr. Dieser Eindruck hat sich im Untersuchungsausschuss schon länger verfestigt. Durch Aussagen vieler Leute, die in Ministerin arbeiten, im Kanzleramt, bei Hilfsorganisation oder Geheimdiensten.

Ein Taliban-Kämpfer mit Vollbart und Sonnenbrille sowie seinem Maschinengewehr im Anschlag regelt den Auto-Verkehr in Kabul.
Sinnbild für die Zeitenwende in Afghanistan: Wo früher Soldaten der Armee patrouillierten, übernahmen Islamisten das Kommando Bild: Wakil Kohsar/AFP/Getty Images

Schon früh wird über den Fall Kabuls spekuliert

Der jetzt befragte BND-Zeuge berichtet von einem im August 2020, also ein Jahr vor der Machtübernahme durch die Taliban entstandenen Papier. Der Inhalt: mögliche Szenarien für Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen.

Als wahrscheinlichste Variante habe man ein "Kalifat 2.0" prognostiziert. Damit meint der Zeuge einen Gottesstaat mit radikalen islamischen Regeln. Und er betont: "Wir haben immer deutlich gemacht, dass es eine Übergangszeit gibt, bis ein solches Szenario eintritt." Man habe aber nicht erwartet, dass die Taliban so schnell und fast kampflos weitere Distrikte Afghanistans übernehmen würden – bis hin zum Einmarsch in Kabul am 15. August 2021.

"Im Großen und Ganzen gab es ein gemeinsames Lagebild"

Ghafari: "Sie verloren den Krieg gegen Terroristen"

Warum sich alle Beteiligten so fatal geirrt haben, darauf hat der Mann vom BND auch keine Antwort. "Im Großen und Ganzen gab es ein gemeinsames Lagebild", sagt er über die regelmäßigen Besprechungen auf politischer und militärischer Ebene. Dass der Bundesnachrichtendienst ab einem bestimmten, nicht näher beschriebenen Zeitpunkt Informationsdefizite hatte, räumt der frühere Regionalbeauftragte für Afghanistan auf Nachfrage des Untersuchungsausschusses ein.

Zu später Stunde wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen

Demnach gab es Probleme beim Zugang zu den Spitzen sowohl der regulären afghanischen Regierung als auch der Taliban. Ob und wie die Lücken geschlossen worden seien, will ein Abgeordneter wissen. Auf diese Frage gibt der BND-Zeuge in öffentlicher Sitzung keine Antwort.

Als es langsam auf Mitternacht zugeht, müssen alle den Saal verlassen, die nicht Teil des Untersuchungsausschusses sind. Die Befragung des Zeugen wird kurz danach fortgesetzt – in einem abhörsicheren Raum des Deutschen Bundestags.   

 

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland