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V statt U an den Börsen

Andreas Rostek-Buetti mit Agenturen
10. Juni 2020

Es sieht ganz so aus, als würden die Börsen der Wirklichkeit gerade ein V für ein U vormachen: ein blitzschneller Aufstieg nach dem Absturz. Dabei ist die Corona-Krise nicht vorbei. Kann das sein? Und kann es gut gehen?

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Bullen-Szenario? Vor der New Yorker Börse
Bild: AFP/A. Weiss

Die Zahl der Corona-Toten in den USA steigt weiter, die Zahl der Arbeitslosen ist weiter hoch, die Zahl der Firmenpleiten ist bedenklich - und die Börsen ziehen wieder an als sei Pandemie nur ein Fremdwort. Am Montag schloss der technologiebetonte Nasdaq schon wieder bei mehr als 100 Punkten über dem letzten Höchstsstand im Februar. Auch der breite Index S&P 500 hat seine Verluste des Jahres wieder ausgeglichen.

Dazwischen lag eine Achterbahnfahrt. Das vergangene Jahr hatte der Dow Jones bei 28.538 Punkten beendet, durch Corona brach er im März um ein Drittel ein und stoppte erst bei rund 18.600 Punkten, und nun also wieder Kurs nach ganz oben. Und an der Börse in Frankfurt ist es nicht viel anders.

Was also hat die Börse mit der Wirtschaft in der wirklichen Welt zu tun? Wenig, scheint es, und alles, könnte man meinen - nur, dass die Börse kein Abbild der Realität ist, sondern bestenfalls ein Wunschbild, jedenfalls eine Projektion, wie die Wirklichkeit aussehen könnte.

Der Bär vor der Börse - Symbol für den Abwärtstrend - hier in Frankfurt
Der Bär vor der Börse - Symbol für den Abwärtstrend - hier in Frankfurt Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

13,4 Billionen Euro

Die Wirklichkeit, das sind auf der einen Seite die Opfer der Pandemie in den USA, in Europa und weiten Teilen der Welt, das ist der Shutdown ganzer Städte, ganzer Wirtschaftszweige, ganzer Fabriken. In der wirklichen Wirklichkeit ist das Bruttosozialprodukt der USA im ersten Quartal um fünf Prozent weggesackt  und in Deutschland um etwas mehr als zwei (im laufenden zweiten Quartal dürfte es hier wie dort deutlich mehr sein). Zur aktuellen Wirklichkeit gehören aber auch gigantische Hilfspakete, in Washington wie in Frankfurt (EZB), in Berlin (Bundesregierung) wie in Brüssel (EU-Kommission).

Die riesigen Summen, die mit diesen Paketen freigegeben werden - allein die US-Notenbank stellt 2,3 Billionen Dollar bereit, die EZB will 1,35 Billionen Euro ins System pumpen - all diese Gelder sind schon ein mehr als üppiger Happen für die Händler an den Finanzmärkten. In den vergangenen zwei Monaten, so hat es Reuters überschlagen, haben Zentralbanken und Regierungen weltweit 13,4 Billionen Euro bereitgestellt - das sind 17 Prozent der Wirtschaftsleistung der ganzen Welt im vergangenen Jahr.

Milliarden von Milliarden von den Zentralbanken - hier die EZB in Frankfurt
Milliarden von Milliarden von den Zentralbanken - hier die EZB in FrankfurtBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Das Geld will irgendwo hin, wo es Rendite bringt. Die bringt es eher nicht bei Staatsanleihen, wohl aber bei Aktien - bei einigen Aktien. Die Flut billigen Geldes zwänge Investoren geradezu "wider besseres Wissen" in die Aktienmärkte, sagt Benjamin Bowler, Chef-Analyst für Aktienderivate bei der Bank of America.

Es gewinnen zwar die breiten Aktienindizes, und es gewinnen bestimmte Titel, aber eben nicht alle. Es gewinnen die Hightech-Titel wie Alphabet, Apple (plus 40 Prozent ), Facebook (plus 60 Prozent) oder Microsoft, es gewinnen die neuen Großhändler wie Amazon - die digitale Wirtschaft und ihre Mitläufer.

"Diese Aktien haben sich wenig überraschend als sehr widerstandsfähig in der Krise erwiesen", sagte der Volkswirt Oliver Jones von "Capital Economics" der DW. Diese Sektoren profitieren von der Krise. Andere Werte, wie die von Energie- und Autokonzern lägen aber immer noch ein Drittel und mehr unter ihrem Niveau vor der Krise.

"Spinnen die Börsianer?"

Welche Wirklichkeit also ist wirklich? Die Zahl der Arbeitslosen - in Deutschland liegt die Quote jetzt bei 6,1 Prozent, in den USA bei 13,3 Prozent? Oder der Aktienkurs von Amazon - plus 45 Prozent?

Oder trifft es die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) mit ihrer Frage: "Spinnen die Börsianer?" Eine Antwort darauf gab in der SZ der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer: "Die Finanzmärkte spielen ein sehr optimistisches Szenario, sie blenden die großen Risiken aus, die weiter bestehen." Da ist er wieder, der Blick in die Zukunft, das "Szenario". Schließlich ist in China die Wirtschaft schon fast wieder auf Vor-Corona-Niveau, wenn man den offiziellen Zahlen glauben darf, und in Europa geht es ebenfalls stetig aufwärts, vielleicht nicht V-förmig, aber immerhin.

Aber es sind eben Szenarien. Zwischen dem Wunsch und der Wirklichkeit liegt derweil die Krise in den Städten der USA und bald der Kampf ums Weiße Haus, und wer weiß, ob es nicht doch zur zweiten Welle in der Corona-Pandemie kommt.

Vor einer neuen Korrektur?
Vor einer neuen Korrektur? Bild: picture-alliance/K. Ohlenschläger

"Es wird eine nachvollziehbare Korrektur geben, wenn die Leute einmal merken, dass wir es nicht mit einer Erholung in U-Form zu tun haben." So hört sich die Antwort bei Nouriel Roubini an, traditionell eher zum Pessismismus tendierender Ökonom an der New York University.

"Mit der realwirtschaftlichen Lage nicht vereinbar"

Der Mann an der Börse ist sich da nicht sicher: Jens Korte, der für DW von der Wall Street berichtet, beantwortet die Frage nach V und U so: "Analysten sind geteilter Meinung, ob der Kurssturz, der Mitte Februar einsetzte, überzogen war. Doch die Vehemenz, mit der die Wall Street in den letzten Wochen zurückgekommen ist, dürfte mit der realwirtschaftlichen Situation nicht vereinbar sein."

Derzeit notierten 90 Prozent der S&P-500-Werte über dem Durchschnittskurs der vorangegangenen 50 Tage, beobachtet Andrew Thrasher, Portfoliomanager des Vermögensverwalters Financial Enhancement. "Diese Stärke sehen wir üblicherweise erst, nachdem ein Abschwung beendet ist." Ganz geheuer ist den Investoren aber nicht: Die Kurse an den Terminmärkten signalisieren, dass sie die Wahrscheinlichkeit eines S&P-500-Rücksetzers um mehr als zehn Prozent innerhalb der kommenden drei Monate auf 29 Prozent taxieren. Die Chance für ein Plus von mehr als zehn Prozent sehen sie nur bei zwölf Prozent.