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Deutscher Verlag will Anne-Frank-Buch prüfen

Christine Lehnen
1. Februar 2022

Nach heftiger Kritik an den Behauptungen, die in dem Buch "Der Verrat an Anne Frank" zu lesen sind, überdenkt der deutsche Verlag eine Veröffentlichung.

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Anne Frank auf einer schwarz-weiß-Fotografie
Wollte ihr Tagebuch nutzen, um nach dem Krieg einen Roman zu schreiben: Anne Frank, die von den Nazis in Bergen-Belsen ermordet wurdeBild: IFTN/United Archives/picture alliance

Jürgen Welte, der Verleger von Harper Collins Deutschland, ist sich der Tragweite einer weiteren Verbreitung der erhobenen Behauptungen bewusst. Er weiß, welche Risiken es mit sich bringen könnte, die Anschuldigung, der jüdisch-niederländische Notar Arnold van den Bergh habe die Familie Frank in ihrem Versteck an die Gestapo verraten, in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Nach heftiger Kritik teilte er in einer schriftlichen Stellungnahme mit: "Nach zwei Fachlektoraten des Manuskripts befinden wir uns gerade in einer internen Überprüfung. Der vergleichsweise späte Erscheinungstermin der deutschsprachigen Ausgabe zeigt, dass wir mit diesem sensiblen Thema äußerst verantwortungsvoll umgehen."

Das Sachbuch "Der Verrat an Anne Frank" der emeritierten Literaturwissenschaftlerin Rosemary Sullivan war bereits am 18. Januar weltweit auf mehreren Sprachen erschienen, eine deutschsprachige Veröffentlichung war für den 22. März 2022 geplant. Auf Anfrage der DW sagte eine Pressesprecherin von Harper Collins Deutschland, der deutschen Niederlassung des gleichnamigen internationalen Verlagshauses, sie könne noch keine Aussage dazu machen, ob der Veröffentlichungstermin verschoben oder die Veröffentlichung ausfallen würde. Auch auf Nachfrage der DW, wie lange die interne Prüfung dauern werde, wollte sich der Verlag nicht äußern.

Scharfe Kritik: Verschwörungsmythen und Verwirrung

Zahlreiche Historikerinnen und Historiker wiesen seit der weltweiten Veröffentlichung auf sachliche Fehler hin. Der niederländische Verlag des Buches entschuldigte sich bereits und gab bekannt, keine zweite Auflage drucken zu lassen, bevor das Untersuchungsteam nicht einige Zweifel ausgeräumt hätte. Laut niederländischen Medienberichten, die der "Spiegel" zitiert, stehe das Ermittlungsteam aber weiterhin zu seinen Äußerungen. 

John Goldsmith, Präsident des Anne-Frank-Fonds mit Sitz in Basel, gegründet von Annes Vater Otto, dem einzigen Überlebenden der Familie, sagte gegenüber der Schweizer Zeitung "Blick" über die Ermittlungsarbeit: "Sie trägt nicht zur Wahrheitsfindung, sondern zur Verwirrung bei und ist darüber hinaus voller Fehler." Kein Beweis für die Schuld des jüdischen Notars sei erbracht worden - stattdessen würden das Untersuchungsteam und Rosemary Sullivans Buch "eine Behauptung verbreiten, die dann in der öffentlichen Dynamik zu einer Art Faktum wird". Das grenze für ihn an Verschwörungsmythen. Antisemiten würden sich darüber freuen.

Dachboden der Prinsengracht 263, dem Anne Frank Haus
Hier im Dachboden der Prinsengracht 263 hielten sich die Franks verstecktBild: dpa/picture-alliance

Was steht in dem Buch?

Zwar sei in den Niederlanden kritisch reagiert worden, aber international bliebe der Schlagzeile unwidersprochen, beklagt Goldsmith im Schweizer "Blick". Nur die Behauptung, ein Jude habe andere Juden verraten, bliebe im Gedächtnis haften. 

Ein Rezensionsexemplar der deutschen Fassung, das der DW von Harper Collins Deutschland zur Verfügung gestellt wurde, gibt Einblick in die Machart des umstrittenen Buchs. Es gelingt Sullivan im ersten Teil, das Schicksal der Familie Frank - das Eingesperrtsein, aber auch Momente der Hoffnung - wiederaufleben zu lassen. 

Darauf folgt jedoch der wesentlich längere, zweite Teil des Buches, der sich mit den Ermittlungen und der Suche nach dem Verräter der Familie Frank beschäftigt. Dieser erinnert in Tonfall und Aufbau an die in den USA, Deutschland und in vielen weiteren Ländern so beliebten "True Crime"-Formate: spannend, spekulativ und gespickt mit bedeutungsschweren Andeutungen darüber, was im Laufe der Ermittlungen noch alles ans Tageslicht kommen wird.

Anne Frank als True-Crime-Format?

In "Der Verrat der Anne Frank" liest sich das, als wäre die Lesenden live dabei: "Die Ermittler fanden keine überzeugenden Belege dafür, dass der Verräter oder die Verräterin von Anne Frank aus der Nachbarschaft kam, aber ihre Untersuchungen führten zu beunruhigenden Hinweisen auf das engere Umfeld, nämlich die Helfer. Das Team fühlte sich den Helfern verbunden, aber wie Vince es ausdrückte, war es notwendig, objektiv zu bleiben, um die Integrität der Ermittlung nicht zu gefährden."

Ermittler mit schlechten Gefühlen und Gewissensbissen, das erinnert eher an einen Fernsehkrimi als eine Untersuchung historischer Begebenheiten. In zweiten Teil von Sullivans Buch fällt den Ermittlern schon einmal "plötzlich" am Anfang eines Kapitels etwas Entscheidendes auf, oder sie spekulieren über die Motive einer lange verstorbenen Person, die sich nicht mehr verteidigen kann, häufig mit rhetorischen Fragen: "Der offensichtlichste Verdächtige war J. W. A. Schepers [als Verfasser einer anonymen Notiz], der nazifreundliche Notar, der van den Berghs Büro übernommen hatte. Er hasste van den Bergh und konnte durchaus auf Rache aus gewesen sein. Es ist unwahrscheinlich, dass sein Zorn nach dem Krieg abgekühlt war. Warum also nicht den nächsten Schritt tun und den Mann verleumden, er habe jüdische Mitbürger verraten?"

Unseriöse Annäherung an Anne Franks Schicksal

Spekulationen über Rachegelüste eines Verstorbenen scheinen die Integrität einer Ermittlung also nicht zu gefährden, legt dieses Zitat nahe. Und so wird in Rosemary Sullivans Buch auch der Verrat an Anne Frank zu nichts mehr als einer weiteren, so kommerziellen wie unterhaltsamen "True Crime"-Geschichte. "Wenn die Auseinandersetzung mit historischen Themen solch groteske und unsinnige Formen annimmt", sagt John Goldsmith über das Buch gegenüber der Schweizer Zeitung "Blick", "haben wir ein Problem als Gesellschaft".