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Politik

Atomare Abrüstung von USA und Russland: 30 Jahre START II

3. Januar 2023

Am 3.1.1993 einigten sich Washington und Moskau mit START II auf nukleare Rüstungskontrolle. Nicht erst der Ukraine-Krieg hat dem ein radikales Ende gesetzt.

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Moskau 1993 - George Bush und Boris Jelzin prosten sich mit einem Sektglas in den Händen gegenseitig zu
Eine andere Zeit: Die Präsidenten George Bush und Boris Jelzin nach der Unterschrift unter den START-II-Vertrag Bild: epa AFP/dpa/picture-alliance

Als Boris Jelzin und George H.W. Bush in Moskau ihre Unterschriften unter den START-II-Vertrag zum Abbau atomarer Langstreckensysteme setzen, prosten und lächeln sie sich zu. Wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges bekunden die Präsidenten Russlands und der USA mit dem Abkommen den Willen, die Zeit des nuklearen Wettrüstens hinter sich zu lassen.

Dreißig Jahre später hat der russische Präsident Wladimir Putin das Nachbarland Ukraine ohne Grund überfallen und terrorisiert die dortige Zivilbevölkerung. Die USA und andere westliche Länder rüsten die Ukraine massiv auf. US-Präsident Joe Biden nennt Putin einen "Schlächter" und "Kriegsverbrecher". Der droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Das ist die Situation zwischen den beiden Groß- und Nuklearmächten Anfang 2023, drei Jahrzehnte später.

"Blütezeit der bilateralen Rüstungskontrolle"

START steht für "Strategic Arms Reduction Treaty", es war ein Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen, das heißt Langstrecken-Trägersysteme von Nuklearwaffen. START II verlangte die Deaktivierung aller landgestützten Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen. Zudem wurde der Abbau der strategischen Atomsprengköpfe bis 2003 auf maximal 3000 bis 3500 pro Seite vereinbart.

Eine ausrangierte US-Atomrakete Titan in einem Raketenlager
Ergebnis funktionierender Rüstungskontrolle: eine ausrangierte US-amerikanische Interkontinentalrakete vom Typ "Titan"Bild: Erich Schmidt/imageBROKER/picture alliance

Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle nennt START II gegenüber der DW eine "Blütezeit der bilateralen Rüstungskontrolle nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. START II war sowohl Ergebnis einer Verbesserung im politischen Verhältnis der beiden Supermächte zueinander als auch Motor für weitere vertrauensbildende Maßnahmen."

Der Vorläufer START I wurde noch zu Zeiten des Kalten Krieges von US-Präsident Ronald Reagan initiiert und 1991, fünf Monate vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, von Reagans Nachfolger George Bush und auf sowjetischer Seite von Michael Gorbatschow unterzeichnet. Ende 1994 trat START I in Kraft.

Bedeutsam in der Rückschau ist unter anderem, dass sich damals in einem Zusatzprotokoll neben Belarus und Kasachstan auch die Ukraine verpflichtete, alle ihre Atomwaffen aus sowjetischer Zeit abzugeben, was die heutige ukrainische Führung bitter bereuen sollte.

Die damaligen Präsidenten der Ukraine, Russlands und der USA, Leonid Krawtschuk, Boris Jelzin und Bill Clinton reichen sich die Hände
1994 gab die Ukraine ihre aus der Zeit der Sowjetunion stammenden Atomraketen auf. Russland, die USA und Großbritannien gaben Sicherheitsgarantien: Die damaligen Präsidenten der Ukraine, Russlands und der USA, Leonid Krawtschuk, Boris Jelzin und Bill ClintonBild: Supinski/epa/picture-alliance

START II trat nie in Kraft

Im Gegensatz zu START I ist START II allerdings nie in Kraft getreten. Die Spannungen zwischen Moskau und Washington hatten wegen der US-Militäreinsätze im Kosovo und im Irak und wegen der NATO-Osterweiterung wieder zugenommen. Russland verknüpfte schließlich die Ratifizierung des Vertrages mit der Aufrechterhaltung des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen von 1972.

"Als die USA 2002 aus dem ABM-Vertrag ausstiegen, war auch START II tot", so Henning Hoff von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Es gab zwar noch Verhandlungen zu einem START-III-Abkommen, doch sie versandeten.

Das Interesse in Washington und in Moskau an strategischer nuklearer Abrüstung blieb aber. Es folgten der Moskauer Vertrag von 2002, der die Anzahl nuklearer Sprengköpfe auf beiden Seiten auf 1700 bis 2200 festschrieb – "immer noch mehr als genug, um die Erde zu vernichten, aber immerhin", so Henning Hoff. Schließlich kam das New-START-Abkommen zustande, das im Februar 2011 in Kraft trat – und bis heute offiziell gültig ist.

Das Abkommen verpflichtet beide Länder, ihre atomaren Sprengköpfe jeweils auf maximal 1550 und die Zahl der Trägersysteme wie Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützte Raketen und Bomber auf je 800 zu reduzieren. Zur Verifizierung darf jede Seite Inspektionen im jeweils anderen Land vornehmen. Die letzte Verlängerung des Abkommens für weitere fünf Jahre wurde 2021 von Wladimir Putin und Joe Biden unterzeichnet, der Vertrag gilt also bis 2026.

New START auch im Ukraine-Krieg gültig

Daran hat im Prinzip auch der Ukraine-Krieg nichts geändert. Russland setzte im August 2022 zwar die Kontrollen seiner Atomwaffenarsenale "vorübergehend" aus, offiziell aber nicht direkt wegen der Kriegssituation - sondern wegen der Sanktionen gegen russische Flugzeuge, deretwegen Russland seine Inspekteure nicht in die USA fliegen könne. Man werde sich aber an die Bestimmungen des Vertrages halten und wisse seine "einzigartige Rolle" als "wichtiges Instrument zum Erhalt der internationalen Sicherheit und Stabilität sehr zu schätzen", hieß es im August aus Moskau - knapp sechs Monate nach Kriegsbeginn.

Zerstörtes Auto nach einem Raketenangriff auf Saporischschja
Zivile Zerstörungen im ukrainischen Saporischschja nach einem russischem RaketenangriffBild: STR/REUTERS

Tatsächlich ist New START heute der einzig übriggebliebene bilaterale nukleare Abrüstungsvertrag zwischen den USA und Russland. Präsident Donald Trump war 2019 aus dem Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen ausgestiegen und hatte 2020 den "Vertrag über den Offenen Himmel" gekündigt, der als vertrauensbildende Maßnahme gegenseitige Aufklärungsflüge erlaubt hatte.

Düstere Aussichten

Wo steht die Welt heute bei der nuklearen Rüstungskontrolle? Der jüngste Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI sah bereits Anfang 2022, also noch kurz vor dem Ukraine-Krieg, "klare Hinweise", dass die Verringerung der weltweiten Kernwaffenarsenale seit dem Ende des Kalten Krieges "zu einem Ende gekommen ist". Weiter heißt es: "Alle Atommächte sind dabei, ihre Arsenale auszubauen oder zu modernisieren (…) Ein sehr besorgniserregender Trend."

Infografik Atomwaffen der neun Nuklearmächte DE
SIPRI: Verringerung der weltweiten Kernwaffenarsenale ist "zu einem Ende gekommen"

Umso besorgniserregender ist das seit dem 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff. Henning Hoff meint: "Das heutige Russland, das Verträge und das Völkerrecht serien- und gewohnheitsmäßig bricht und dazu noch immer wieder unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, ist kein ernstzunehmender Verhandlungspartner, wenn es um strategische Abrüstung geht."

arineparade in St. Petersburg: Putin winkt einem Marine-Schiff zu, dahinter zwei hochrangige Armee-Angehörige
Putin, hier am Tag der Marine am 31. Juli 2022 in St. Petersburg, hat wiederholt mit einem Atomwaffeneinsatz gedrohtBild: Russian President Press Office/dpa/picture alliance

Russlands Invasion habe außerdem gezeigt, "dass nur Nuklearstaaten bzw. solche, die als NATO-Mitglieder vom atomaren Schutzschirm der USA profitieren, sich einigermaßen sicher fühlen können". Immerhin spreche vieles dafür, dass die Existenz von Nuklearwaffen "einen 'großen Krieg' zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. heute Russland verhindert hat und dass das auch so bleiben wird".

Für Johannes Varwick erscheint heute "Rüstungskontrolle wie ein Relikt aus ferner Vergangenheit". Zur Konfrontation zwischen Moskau und Washington kämen noch die wachsenden Spannungen mit China, "das bisher im Nuklearbereich mit Ausnahme des Atomwaffensperrvertrages in keinen vertraglichen Rahmen eingebunden ist".

Wenn man heute auf dem Gebiet etwas erreichen wolle, meint Varwick, müsse man zunächst die Ausgangslage für strategische Abrüstung verbessern. "Das ginge aber nur durch eine aus heutiger Sicht utopische Verbesserung der politischen Beziehungen in dem Dreieck Washington, Moskau, Peking. Es geht also jetzt um Schadensbegrenzung und nicht um große Visionen."

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik