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Literatur

Birgit Vanderbeke: "Das Muschelessen" 

Aygül Cizmecioglu spe
7. Oktober 2018

Ein schnödes Abendessen gerät außer Kontrolle. Mutter, Tochter und Sohn halten Gericht über den abwesenden Vater. Mit diesem Abgesang auf ein Familienidyll gewann Birgit Vanderbeke 1990 den Ingeborg Bachmann-Preis. 

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Porträt Birgit Vanderbeke
Bild: picture.alliance/HMB Media/V. Danzer

Die einen lieben diesen salzigen Geschmack von Meer, umschlossen von einer festen Schale. Die anderen ekeln sich vor der glibberigen Masse. An Muscheln scheiden sich die Geister. In Birgit Vanderbekes Buch sind die maritimen Weichtiere Auslöser eines wahren Familientribunals. 

Warten auf den Despoten

Mutter, Tochter und Sohn warten abends auf die Rückkehr des Vaters von einer Dienstreise. Die langersehnte Beförderung des Familienoberhaupts soll gefeiert werden, der Höhepunkt einer ehrgeizigen Karriere. Auf dem Tisch wartet das Lieblingsessen des Familienoberhaupts: eine große Schüssel Miesmuscheln - von ihm heiß geliebt, von allen anderen mit Naserümpfen und Ekel ertragen. Doch der Vater kommt nicht. 

"Das Muschelessen" von Birgit Vanderbeke

"Meine Mutter hat kurz nach sieben gesagt, es wird doch hoffentlich nichts passiert sein, und aus reiner Bosheit habe ich darauf gesagt, und wenn schon, weil ich plötzlich fand, dass mein Vater ein Spielverderber wäre, vielmehr ein Stimmungsverderber, auf einmal habe ich mir gewünscht, dass er nicht mehr zurückkäme. […] Meine Mutter hat mich zwar angesehen, aber nicht so entsetzt, wie ich erwartet hatte, sondern mit schräg gelegtem Kopf, dann hat sie gelächelt und gesagt, nun, wir werden sehn, und es hat nicht so geklungen, als würde sie es verwunderlich oder schlimm finden, wenn er jetzt einfach nicht käme."

Idylle als Fassade

Also wird die kaltgestellte Spätlese geöffnet und mit jedem Tropfen löst sich die Zunge mehr, werden die Anklagen gegen den abwesenden Vater immer lauter. Alles  kommt auf den Tisch – seine Brutalität, sein despotisches Gehabe, seine Anweisungen, denen alle folgen müssen. Jahrzehntelang tyrannisierte er seine Familie – der Sohn galt ihm als Weichei, die Tochter als zu hässlich und die Gattin als bessere Putzfrau. Der Frust von Jahrzehnten bricht sich ungefiltert Bahn. Die ganze Idylle war nur Fassade. 

Ein Teller voller Miesmuscheln (Foto: Imago/Kickner)
Bild: Imago/Kickner

"…in Wirklichkeit, haben wir gefunden, waren wir keine richtige Familie, alles in dieser Familie drehte sich nur darum, dass wir so tun mussten, als ob wir eine richtige Familie wären, wie mein Vater sich eine richtige Familie vorgestellt hat, weil er keine gehabt hat und also nicht wusste, was eine richtige Familie ist."

Birgit Vanderbeke zeigt den Verfall einer Familie in Zeitlupe. Keine Absätze, fast ohne Punkt und Komma – die Bitterkeit und die Enttäuschung über den Familientyrannen steigert sich langsam. Einer Welle gleich, die sich langsam aufbaut und dann alles mit sich in die Tiefe zieht. 

Genau für diesen literarischen Furor bekam Birgit Vanderbeke 1990 den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihr Debüt war zugleich ihr größter Erfolg – bis heute. Der Abgesang auf das kleinbürgerliche Glück endet mit einem Telefonklingeln. Die Mutter geht nicht ran. Stattdessen wirft sie die inzwischen schlecht gewordenen Muscheln weg und sagt zu dem Sohn: "Würdest du bitte den Müll runter tragen."


Birgit Vanderbeke: "Das Muschelessen" (1990), erhältlich im Piper Verlag

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im ostdeutschen Dahme, wuchs in Frankfurt am Main auf. Seit 1993 lebt sie als freie Autorin in ihrer Wahlheimat in Südfrankreich.