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Bürgermeister als "Zielscheibe des Hasses" in Deutschland

12. April 2024

Fast 11.000 Bürgermeister prägen in Deutschland die Politik vor Ort. Die meisten davon arbeiten ehrenamtlich. Viele von ihnen denken an Rückzug angesichts einer zunehmenden Bedrohung.

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Deutschland Berlin | Gesprächsveranstaltung Demokratie beginnt vor Ort | Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will den ehrenamtlichen BürgermeisterInnen den Rücken stärken Bild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Sie sind das Gesicht der Politik vor Ort - doch oft bläst den kommunalen Politikern in Deutschland ein heftiger Wind entgegen. Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gibt es deshalb Anlass, zu warnen: "Wenn Bürgermeister oder Gemeinderäte bestimmte Reizthemen nicht mehr ansprechen, ihre Social-Media-Accounts löschen oder sogar ihr Amt oder Mandat niederlegen, um sich und ihre Familie vor Anfeindungen zu schützen; wenn Menschen, die gern kandidieren würden, davon Abstand nehmen, weil sie nicht zur Zielscheibe des Hasses werden wollen, dann dürfen Demokratinnen und Demokraten das nicht einfach achselzuckend hinnehmen." 

Mehr als 80 ehrenamtliche Bürgermeisterinnen und Bürgermeister hatte der Bundespräsident am Donnerstag zusammen mit der Körber-Stiftung eingeladen. Unter dem Titel "Demokratie beginnt vor Ort" beschäftigten sie sich mit den Sorgen und Nöten der ehrenamtlichen Politiker.

Alarmierende Zahlen

Die Körber-Stiftung gab für die Veranstaltung eine repräsentative Umfrage beim Meinungsforschungsinstitut Forsa in Auftrag. Danach gaben 40 Prozent der ehrenamtlichen Bürgermeister und Bürgermeisterinnen an, dass sie oder Personen aus ihrem Umfeld schon einmal wegen ihrer Tätigkeit beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen wurden. Bei den hauptamtlichen Mandatsträgern sind es sogar 57 Prozent  laut einer Forsa-Umfrageaus dem Jahr 2021.

Aufgrund dieser Erfahrung hat mehr als jeder vierte ehrenamtliche Bürgermeister schon einmal darüber nachgedacht, sich aus der Politik zurückzuziehen - aus Sorge um die eigene Sicherheit. Zudem berichten fast zwei Drittel der Befragten, dass sich in ihrer Gemeinde zunehmend Unmut und Unzufriedenheit unter den Bürgerinnen und Bürgern breit macht. 35 Prozent sehen im Rechtsextremismus in den kommenden Jahren eine große Herausforderung für die eigene Gemeinde. Knapp jede und jeder Fünfte berichtet von vermehrt demokratiefeindlichen Tendenzen. In Ostdeutschland stimmt sogar jede und jeder Vierte dieser Aussage zu. Ein Ergebnis, dass auch im Hinblick auf die drei Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern in diesem September Sorgen macht.

Es hätte auch Tote geben können

Michael Müller hat es in seinem Heimatort Waltershausen in Thüringen zu spüren bekommen. Vor dem Haus des SPD-Lokalpolitikers wurde im Februar ein Brandsatz gezündet. 

Müller kann es immer noch nicht fassen. In der Tatnacht brannte erst das Auto vor dem Haus, dann geriet die Fassade in Brand. In dem Haus hatte Müller eine Familie mit zwei Kindern untergebracht. Zum Glück konnten sie sich retten. Später wird der Brandgutachter von einem gezielten Mordanschlag sprechen. Ermittelt wird nun wegen Mordversuchs. 

Kommunalpolitiker - beleidigt, bedroht, angegriffen

An einen Zufall mag Müller nicht glauben. Er hatte erst wenige Tage zuvor zu einer Demonstration gegen Rechtsextreme aufgerufen. Michael Müller sieht diese Bedrohungen mit großer Sorge, denn "viele Leute überlegen, ist es wert, meine Freizeit zu opfern für diese Gesellschaft, die mich aber im Gegenzug bedroht?" Irgendwann, so seine Befürchtung, "wird es immer weniger Menschen geben, die ihre Freizeit opfern und als Stadträte, Gemeinderäte, ehrenamtliche Bürgermeister arbeiten". Die würden dann " lieber etwas Schönes mit der Familie zu machen”, vermutet er.

Eine im Rahmen des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz durchgeführte repräsentative Studie bestätigt ähnliches für die Debatte im digitalen Raum. Je stärker sie verroht, desto mehr Menschen ziehen sich aus den Diskursen im Netz zurück.

Deutschlands Kommunalpolitiker fürchten sich - zu Recht

Henriette Reker, die Oberbürgermeisterin von Köln, entrann 2015 nur knapp dem Tod. Einen Tag vor der Wahl stach ihr ein fanatisierter Rechtsradikaler in den Hals. Andreas Hollstein, Bürgermeister der Stadt Altena, wurde 2017 von einem aufgebrachten Flüchtlingshasser ebenfalls ein Messer in den Hals gestoßen. Als 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsradikalen ermordet wird, rüttelt dies viele auf.

Langsam erfährt eine breitere Öffentlichkeit, was mancher Kommunalpolitiker aushalten muss. Mal wird ein Galgen im Vorgarten aufgestellt, ein Tierkadaver liegt im Briefkasten, Hassposts werden versendet, in denen steht, man kenne die Wohnadresse und die Schule der Kinder. 

Die Mandatsträger wehren sich

Um Durchzuhalten muss man vermutlich so überzeugt von seiner politischen Arbeit sein wie die Bürgermeisterin der brandenburgischen Stadt Zossen, Wiebke Şahin-Schwarzweller. Die Liberale sagt der DW, dass sie schon während ihres Wahlkampfes 2019 offen bedroht worden sei. "Auch mein Ehemann, der türkischer Herkunft ist, war Ziel von Verleumdungen, die gegen mich gerichtet waren." 

Deutschland Zossen 2024 | Porträt von Wiebke Şahin-Schwarzweller, FDP-Bürgermeisterin
Wiebke Şahin-Schwarzweller: Die Bürgermeisterin von Zossen will sich nicht klein kriegen lassenBild: Bettina Stehkämper/DW

Doch die Kommunalpolitikerin wehrt sich. Sie gehört zu denjenigen, mit denen Bundespräsident Steinmeier seit 2018 immer wieder zu diesem Thema in Kontakt steht. Denn anders als Spitzenpolitiker werden Kommunalpolitiker weder durch gepanzerte Limousinen, Personenschutz oder Gesetze ausreichend geschützt. Also kämpfen sie dafür, so gut vernetzt und informiert zu sein, dass wenigstens dies sie schützt. Daraus entstanden ist das Portal "Stark im Amt", das Kommunalpolitikern Hilfestellung bietet. Staatsanwaltschaften, Polizeidienststellen und Behörden sind mittlerweile sensibilisiert. 

Eine neue Anlaufstelle für bedrohte Kommunalpolitiker

Im März 2022 stellte die Bundesregierung zehn Maßnahmen aus dem Aktionsplan gegen Rechtsextremismus vor.  Der Schutz von Man­dats­tragenden ist eine davon. Deshalb soll es eine neue, bundesweite Anlaufstelle für bedrohte Kommunalpolitiker geben. Sie soll im Sommer dieses Jahres an den Start gehen.

Marcus Kober vom Deutschen Forum für Kriminalprävention ist mit für die Umsetzung zuständig. Der DW sagt er: "Dem Gefühl entgegenzuwirken, allein damit fertig werden zu müssen, ist ein ganz wichtiger erster Schritt." Der zweite Schritt sei dann zu klären, ob es eine Straftat ist, welche Behörde zuständig ist und die Angebote in einem mittlerweile relativ gut ausgebauten Hilfesystem aufzuzeigen. 

Für Marcus Kober benötigen die kommunalen Vertreter dringend Schutz. Denn sie würden den Kopf hinhalten für alle Entscheidungen auf Landes- oder Bundesebene.  Für ihn sind sie der wesentliche Motor des demokratischen Systems. Heißt, wenn der stottert, dann ist die Demokratie in Gefahr. Dem dürften wohl die meisten ehrenamtlichen Bürgermeister und Bürgermeisterinnen beim Bundespräsidenten zustimmen.