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Literatur

Literatur in Zeiten von Corona

Georgi Gospodinov
16. April 2020

Die Zahlen in Menschen zu verwandeln, ihnen ein Gesicht, eine Geschichte zu verpassen - das ist im Grunde die Berufung der Kunst und im Einzelnen der Literatur, meint der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov.

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Georgi Gospodinov
Georgi Gospodinov: Literatur bietet uns ein Vergrößerungsglas, mit dessen Hilfe wir die Welt und uns selbst entschlüsseln könnenBild: Petya Vassileva

Es ist mir aufgefallen, dass ich in solchen Tagen am liebsten zu Büchern greife, die ich schon gelesen habe. Ein altes Buch in unruhigen Zeiten neu zu lesen: es ist die Erinnerung an mein damaliges "Ich", das dieses Buch zum ersten Mal aufgeschlagen hat. Es ist eine Rückkehr in mein damaliges Zimmer. Es schenkt mir ein Stück Sicherheit, ein Stück Ruhe.

Eine Online-Zeitung wollte wissen, was ich gerade lese. Die gleichen Bücher, antwortete ich, die ich auf Reisen immer dabei habe. Bücher, die in der Welt von gestern geschrieben worden sind. Darunter übrigens auch "Die Welt von gestern" von Stefan Zweig.

Mit einem Freund habe ich neulich darüber gestritten, ob Bücher überhaupt von Nutzen sind, wo wir heutzutage doch nur auf Zahlen schauen, mehr noch: wo wir von ahlen und Diagrammen geradezu hypnotisiert sind. Die Staaten haben sich in Zahlenkolonnen verwandelt, es tickt ein Riesenzähler, der ununterbrochen die Zahlen dreht: wie viele Infizierte, wie viele Tote. Das Gefühl ist unheimlich. Und gerade aus diesem unheimlichen Gefühl heraus kam die einfache Erhellung über die Literatur und ihre enorme Wichtigkeit heute. Sie verwandelt die Zahlen zurück in Menschen. Sie bringt die Menschen zurück. Dort, wo bisher eine abstrakte Zahl stand, taucht plötzlich ein Mensch mit seiner Geschichte auf. Und noch ein Mensch, der sich um den ersten Menschen Sorgen macht. Und noch mehr Menschen, die mit diesen Menschen und mit anderen Menschen verbunden sind. Hier muss ich ein furchtbares Wort benutzen: es ist das exponentielle Heranwachsen des Menschlichen hinter den Zahlen, es ist die Lawine der ineinander verschachtelten menschlichen Geschichten. Und das ist im Grunde die Berufung der Kunst und im Einzelnen der Literatur: die Zahlen in Menschen zu verwandeln, ihnen ein Gesicht und eine Geschichte zu verpassen.

Ob das eine Erleichterung ist? Lasst uns ehrlich sein: eher nicht. Es hilft aber für die Erhaltung der menschlichen Natur. Es erzeugt ein notwendiges Gespür für das Leben und seine Gebrechlichkeit. Und gerade aus diesem Gespür heraus entspringt unsere Liebe für diese kurzlebige Welt: wir lieben sie gerade, weil sie kurzlebig und sterblich ist. Sie verstärkt die Empathie für unseren Nächsten. Die Zahlen würden mich ja nicht weiter beschäftigen, wenn sie kein Gesicht und keine Geschichte gehabt hätten.

Das erste Zeichen des menschlichen Werdens, die erstmalige Trennung des Urmenschen von seinen tierischen Wurzeln sei die erste Beerdigung. Das habe ich gelesen. Ein Mensch stirbt und die anderen Menschen entscheiden sich, ihn zu beerdigen, anstatt seine Leiche einfach so liegen zu lassen. Sie tun etwas, was sie auch hätten lassen können. Denn der Tote hätte ja sowieso nichts davon gehabt. Seine Mitmenschen handeln eigentlich sehr unpraktisch, dafür aber - menschlich. Vielleicht deswegen sind wir ja von den Bildern der Leichensäcke und der Kühlwagen so entsetzt…

Am Anfang der Kultur und der Zivilisation war wohl so eine unpraktische, nicht essentielle Handlung. Denn: wozu brauche ich eigentlich eine Felsenzeichnung von laufenden Tieren, wozu brauche ich die Hängenden Gärten von Babylon oder einen homerischen Vers? Würden sie mich heilen? Würden sie mein Leben leichter machen? Heute noch zweifeln viele daran, geschweige denn damals, als die Menschheit noch im Entstehen begriffen war und als es nur darum ging, zu überleben, eine Knolle zu finden oder ein Wildtier oder eine Feuerstelle…

Ist Literatur heute von existentieller Bedeutung? Ob sie, neben der Kunst, tatsächlich lebenswichtig und -notwendig ist? Ja, ich kenne die schnelle Antwort: natürlich nicht. Und trotzdem.

Nach dem 11. September 2001 ist die Besucherzahl der Museen für nichtzeitgenössische Kunst und der klassischen Konzerte durch die Decke geschossen. Der Mensch braucht offenbar eine Bestätigung, dass die Welt nicht von gestern ist, dass es andere Zeiten gegeben hat und geben wird. Plötzlich erscheint die Kunst auf einmal nicht so nutzlos. Ganz am Anfang, als sich die Pandemie in Europa breit machte, stieg die Nachfrage nach Büchern wie "Die Pest" von Albert Camus, "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" von Gabriel García Márquez und "Das Dekameron" von Giovanni Boccaccio. Welche Superkraft geht von diesen Büchern heute noch aus? Sind sie doch weder Handbücher mit praktischen Anweisungen, noch Virologie-Lehrbücher. Die Antwort ist eigentlich sehr simpel: die Welt ist plötzlich undurchsichtig geworden, wir sind von etwas überfallen worden, das wir nicht verstehen. Und die Literatur bietet uns ein Instrument, ein Vergrößerungsglas, mit dessen Hilfe wir die Welt und uns selbst entschlüsseln können. Ich schlage "Das Dekameron" als Lebenshilfe auf - um zu erfahren, wie man in so einer Situation überlebt. Die Schwermut im 14. Jahrhundert ist nicht anders als die Schwermut heute.

Um es beim Namen zu nennen: den Tod denken, das brauchen wir wieder, langsam und tief uns in den Tod hineindenken. Über den Tod reden. Denn die ganze Unterhaltungsindustrie hat in den letzten Jahren den Tod virtuell und körperlos gemacht. Und paradoxerweise hat uns das neue Virus einerseits die Körper gestohlen und sie in Räumlichkeiten eingesperrt, andererseits aber uns das Körpergefühl zurückgegeben. Weil unsere Körper nicht auf dem Bildschirm sterben. Weil wir keine Avatare sind, sondern Lungen haben, die plötzlich versagen.

Und es ist die Literatur, die schon seit Jahrhunderten das unter den Teppich gekehrte Gespräch über den Tod fortführt. Die anderen Medien kamen erst später. Deswegen werden wir unvermeidlich zum Geschriebenen zurückkehren. Nach schweren Krisen wie der heutigen werden weitere folgen - nicht so sichtbar, aber sinnzerstörend. Was auf uns zukommt, ist eine abermalige Sinnentleerung. Die Große Depression ist kein rein wirtschaftlicher Begriff. Denn das Angstvirus wird uns viel länger als das Coronavirus erhalten bleiben. Gott sei Dank aber ist der Impfstoff dagegen schon vor Jahrhunderten entdeckt worden. Und wir brauchen nur zum Bücherregal zu greifen.

Als ich klein war, habe ich chaotisch und selbstvergessen gelesen - und immer gefürchtet, dass der Held am Ende sterben könnte. Deswegen habe ich Bücher bevorzugt, die in erster Person geschrieben waren. Da war ich mir sicher, dass der Held niemals stirbt. Ich habe damals unbewusst das entdeckt, was Scheherazade immer gewusst haben mag. Solange du erzählst, bleibst du am Leben. Solange du die Zahlen in Menschen verwandelst, solange du mit den Menschen mitfühlst und Mitleid mit ihnen hast, solange du liest, Musik hörst oder dir Bilder anschaust, solange du an den Tod denkst, bist noch am Ufer des Lebens.

Georgi Gospodinov (geb. 1968) ist der meistübersetzte zeitgenössische bulgarische Schriftsteller. Seine Romane "Natürlicher Roman" und "Physik der Schwermut", sowie seine Gedichtbände und Theaterstücke sind in 25 Sprachen übersetzt worden. Gospodinov erhielt u.a. den Mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus (2019) und den Jan Michalski Literaturpreis (2016). Zurzeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. "Ein grandioser Geschichtenerzähler und -sammler", schrieb über ihn Sandra Kegel in der FAZ.