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KonflikteNahost

Endlich frei - was israelische Geiseln berichten

6. Dezember 2023

105 verschleppte Israelis hat die Terrororganisation Hamas bisher freigelassen. Für sie hat das Geiseldrama ein Ende. Doch wie geht es den Menschen, von denen manche fast zwei Monate lang in Geiselhaft waren?

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Eine israelische Familie hält sich in den Armen, auf einer israelischen Militärbasis
Eine israelische Familie, wieder vereint nach der Freilassung von GeiselnBild: Prime Minister's Office/Handout via Reuters

Der Anruf löste gemischte Gefühle aus bei Yair Moses. Seine Mutter Margalit sollte zu den ersten Geiseln gehören, die am 24. November, nur Stunden nach Inkrafttreten der Feuerpause, aus dem Gazastreifen freigelassen werden sollten. Dorthin hatte die militant-islamistische Terrororganisation Hamas Margalit Moses am 7. Oktober gebracht, als sie sie aus ihrem Heimatort, dem Kibbuz Nir Oz, verschleppte. 

"Natürlich waren wir überglücklich, aber auch sehr besorgt", sagt ihr Sohn Yair Moses im Gespräch mit der DW. Vor der ersten Freilassung wusste keiner, ob "es wirklich passieren wird, ob die Leute wirklich auf der Liste sein werden, wie die Übergabe an das Rote Kreuz verlaufen wird, wie sie nach Ägypten und dann wieder nach Israel kommen, und wie lange der Prozess dauern wird."

Erst als er seine 78-jährige Mutter auf den ersten Videos sah, die die Hamas von der Übergabe der Geiseln an das Internationale Rote Kreuz verbreitete, schien es plötzlich real, dass sie tatsächlich nach Hause kommen würde. "In dem Moment, in dem wir sahen, wie sie aus dem Auto winkte und dann zu dem Bus lief, da wurde uns klar, dass sie zumindest physisch in Ordnung schien. Und wir waren natürlich extrem froh", sagt Moses.  

Die psychische Verfassung der Geiseln bereitet Sorgen

Äußerlich sahen viele der inzwischen 110 Freigelassenen unversehrt aus. Zwar hatten viele an Gewicht verloren, doch außer denjenigen, die bei ihrer Entführung verletzt worden waren, hatten die meisten Geiseln keine offensichtlichen Verletzungen. Doch ihre psychische Verfassung bereitet Sorgen. 

Ein Mann und andere Menschen halten Plakate mit den entführten Israelis hoch - darauf zu sehen: Überschriften "Kidnapped" über Portraits der Entführten und Texten
Yair Moses bei einer Demonstration der Angehörigen der Geiseln in Tel AvivBild: Tania Kraemer/DW

Als die Menschen am Morgen des 7. Oktobers aus verschiedenen Orten im Süden Israels entführt wurden, mussten einige mitansehen, wie ihre Verwandten oder Nachbarn umgebracht wurden. Andere hingegen wussten bis nach ihrer Freilassung nicht, dass auch ihr Ehepartner oder andere Angehörige verschleppt wurden. 

Erwachsene israelische Männer unter den Geiseln wurden bisher nicht freigelassen.

Bei den Terrorattacken am 7. Oktober tötete die Hamas 1200 Israelis und verschleppte 239 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen . Dort wiederum wurden seit Kriegsbeginn mehr als 15.800 Palästinenser durch die israelische Armee getötet, so Zahlen des Hamas-kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

"Einige Geiseln wurden geschlagen"

Nach und nach kommen nun die Erlebnisse der Geiseln in die israelische Öffentlichkeit, doch bislang sind die Erzählungen bruchstückhaft. Und nicht alles, was die Freigelassenen ihren Familien erzählen, wird bekannt. Margalit Moses etwa habe ihrer Familie viel erzählt, sagt ihr Sohn. "Aber wir können dies nicht alles teilen. Wir wurden gebeten, dies nicht zu tun, aus Sorge um die Geiseln, die noch dort sind." Wer diese Bitte an die Familie herangetragen hat, führt Moses nicht weiter aus. "Was ich erzählen kann, ist, dass sie versucht hat, positiv zu bleiben, sie hat versucht anderen zu helfen, zum Beispiel wenn ältere Leute zur Toilette mussten. Sie hat versucht, mit anderen zu singen oder sich auszutauschen, miteinander zu reden." 

Medienvertreter richten Kameras auf ein Fahrzeug des Roten Kreuzes am Grenzübergang Rafah
Lang erwartet: Die israelischen Geiseln wurden zunächst an Mitarbeitende des Roten Kreuzes übergebenBild: Al Sabbagh/AFP

Auf Videos der Geisel-Übergabe an Helfer des Internationalen Roten Kreuzes durch Hamas-Kämpfer winkten einige Geiseln ihren Geiselnehmern noch auf Wiedersehen. "Das war eine Show, die sie mitmachen mussten", meint Asher Ben-Arieh, Professor an der Paul Baerwald School of Social Work and Social Welfare der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die Berichte derer, die aus der Geiselhaft gekommen sind, die physischen und die psychologischen Befunde, die Geschichten, die wir hören - das war alles andere als freundlich."

Der Trauma-Spezialist für Kinder hat an den Richtlinien für die Behandlung von Geiseln nach ihrer Freilassung mitgearbeitet und vor allem mit den Kindern und Müttern gesprochen. "Es gab auch die Zeugenaussagen der thailändischen Geiseln. Einige wurden etwas besser behandelt, andere schlechter. Einige wurden geschlagen, anderen wurden Essen vorenthalten, andere wurden am Schlafen gehindert. Es war brutal." 

Ein neunjähriges Mädchen, das nach der Geiselhaft nur noch flüstert

Angehörige anderer Geiseln haben in israelischen und ausländischen Medien über die Erlebnisse berichtet, etwa davon, dass es zwar anfangs noch genügend zu essen gab, aber dann immer weniger, nur etwas Reis und Kekse. Der 12-jährige Eytan musste nach Aussage seiner Tante Deborah Cohen "Horror-Videos vom 7. Oktober anschauen" und wurde für einige Zeit alleine in einem Raum festgehalten. "Als er in Gaza ankam, haben ihn Leute, an denen er vorbeikam, geschlagen", sagte Cohen einem französischen Sender. "Und sie haben den Kindern mit einer Waffe gedroht, wenn sie anfingen zu weinen."

Die neunjährige Emily habe nur noch geflüstert, nachdem sie aus dem Gazastreifen zurückkam, erzählt ihr Vater. "Wenn sie mit mir sprach, konnte ich nichts verstehen."

Poster zeigen die Fotos von drei israelischen Kindergeiseln im Alter von 3, 4 und 8 Jahren
Auch Kinder wurden von der Hamas verschlepptBild: Ariel Schalit/AP Photo/picture alliance

Von 50 Tagen im Dunkeln, ohne die Möglichkeit zu duschen und mit wenig zu essen berichtet der Onkel der 13-jährigen Hila, auch sie eine der freigelassenen Geiseln. Einige Menschen hätten demnach auf Bänken geschlafen, andere auf Matratzen am Boden. Ihnen sei gesagt worden, dass sie tagsüber flüstern sollten und nachts still zu sein hätten, sagte ihr Onkel, Yair Rotem, in israelischen Medien.

Ärzte und Psychologen haben den Familien geraten, dass sie die Freigelassenen nicht mit Fragen oder Informationen bedrängen sollten. Alles, was diese jetzt brauchten, sei das Gefühl, wieder die Kontrolle über ihr Leben zu haben, sagt der Trauma-Spezialist Asher Ben-Arieh. "Das Wichtigste ist, nicht für sie zu entscheiden. Man muss sie fragen, was sie tun oder nicht tun wollen, und ihnen ermöglichen, soweit wie möglich die Kontrolle über ihr Leben wieder herzustellen," so Ben-Arieh. 

Die Hamas hält noch immer mehr als 130 Israelis gefangen

Für Yair Moses ist der Alptraum noch längst nicht vorbei. Denn sein Vater befindet sich weiter in der Gewalt der Hamas. Seine geschiedenen Eltern lebten beide im überfallenen Nir Oz. Von dem 80-jährigen Vater fehlen seit zwei Monaten jegliche Neuigkeiten. Israel geht davon aus, dass insgesamt noch 137 Geiseln festgehalten werden.

Eine Frau blickt offenbar niedergeschlagen auf den Boden, hinter ihr Plakate mit Gesichtern der verschleppten Israelis
Quälendes Warten auf Nachrichten über die Freilassung von GeiselnBild: Alexander Ermochenko/REUTERS

Auch das internationale Rote Kreuz hat bislang keinen Zugang zu den Geiseln in Gaza erhalten. "Jeden Tag wächst meine Sorge um meinen Vater, aber auch um all die anderen die noch dort sind", sagt Moses. Er selbst ist in Nir Oz aufgewachsen und kennt viele der Kibbuz-Bewohner persönlich. "Für mich ist das nicht nur eine Liste mit Namen, ich kannte sie alle. Aber auch die anderen, die ich nicht kenne, die jungen Leute von der Party in Re'im, die Soldaten - jeder muss zurückkommen." 

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin