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PolitikEuropa

EU-Migrationspakt: Mühsames Ringen um eine Einigung

Bernd Riegert in Brüssel
28. September 2023

Noch wird in der EU um ein Ergebnis gestritten. Deutschland gab zwar seinen Widerstand gegen einen Teil des Migrationspaktes auf, doch jetzt haben andere Bedenken.

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Migranten in einem Lager, davor stehen Polizisten
Das Regelwerk für Migration in der EU ist kompliziert Bild: Alessandro Serrano/AFP/Getty Images

Die Innenministerinnen und Innenminister der Europäischen Union haben es trotz zäher Verhandlungen nicht geschafft, das komplizierte Puzzle mit Namen "Neuer Migrationspakt" zu vervollständigen. Das letzte Puzzleteil, der Krisenmechanismus, wurde auch an diesem Donnerstag in Brüssel nicht fertig. Die allerletzten Details sollen nun "in den nächsten Tagen" ausgehandelt werden, sagte der Vorsitzende des Innenministerrates, der Spanier Fernando Grande-Marlaska. Es habe eine breite Mehrheit der EU-Mitglieder gegeben. Nur Polen und Ungarn stellten sich offen gegen das Puzzle. Italien meldete Bedenken an und will nun weiter prüfen und die Texte studieren.

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Krisenmechanismus bleibt umstritten

Zu Beginn der Sitzung hatte sich die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) noch optimistisch gegeben. Schließlich hatte sie nach einem Donnerwetter von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), das dem grünen Koalitionspartner galt, den offiziellen Widerstand Deutschlands gegen das Puzzleteil Krisenmechanismus aufgegeben. Faeser legte einen neuen Text in Brüssel vor. Dabei kam es ihr vor allem darauf an, dass Staaten wie Italien oder Griechenland, in denen Migranten zuerst ankommen, nicht alleine bestimmen können, wann eine Krise, also eine Überlastung des Asylsystems, eintritt.

Bundesinnenministerin Faser spricht bei einem Pressetermin in ein blaues Mikrofon
Bundesinnenministerin Faser gab deutschen Widerstand auf und spricht von "politischer Einigung" (Archiv)Bild: Bernd Riegert/DW

"Für uns ist wichtig, dass auch im Krisenfall oder bei einer Instrumentalisierung sichergestellt ist, dass ein Staat nicht leichtfertig in Anspruch nimmt, Standards  abzusenken. Dafür haben wir noch weitere Konditionen hineinformuliert", sagte Nancy Faeser in Brüssel. Das soll heißen, dass die Verfahren nur dann verschärft, verlängert oder bei schlechterer Unterbringung durchgeführt werden dürfen, wenn die EU-Staaten das mit Mehrheit feststellen. Diese Bedingung rief Italien auf den Plan, das im Krisenfall möglichst schnell möglichst viele Migranten nach Norden weiterreisen lassen möchte, um seine eigenen Einrichtungen zu entlasten.

Migrationspakt tritt erst in zwei Jahren in Kraft

"Wir müssen strenger werden, wir müssen klarer werden, wir müssen auch härter werden, damit auf der anderen Seite das System jenen zur Verfügung steht, die tatsächlich unsere Hilfe brauchen", sagte der Innenminister von Österreich, Gerhard Karner. Er erinnerte damit an die Grundsätze des großen Puzzles Migrationspakt, auf das sich die Innenminister im Juni geeinigt hatten. Der Pakt besteht aus weit mehr als nur dem Krisenmechanismus, der nur in extremen Situationen angewendet werden soll. Der Migrationspakt, der noch mit dem Europäischen Parlament als Ko-Gesetzgeber verhandelt werden muss, sieht schnelle Verfahren direkt an den Außengrenzen für 30.000 Personen gleichzeitig vor. Abschiebungen direkt von der Grenze sollen möglich werden. Er schreibt die Registrierung aller Ankommenden vor. Der Pakt umfasst erstmals in der EU-Geschichte eine verbindliche Quotenregelung zur Verteilung von Asylbewerbern auf alle Mitgliedsstaaten. Bis die Gesetzgebung für das große Puzzle abgeschlossen ist und die ersten Lager für Grenzverfahren tatsächlich errichtet sind, dürften mindestens zwei Jahre vergehen.

Polen und Ungarn wollen den Pakt jedoch auf keinen Fall umsetzen. Der Migrationspakt ist also keine Lösung für die derzeitig hohen Ankunftszahlen in der EU, zum Beispiel auf der italienischen Insel Lampedusa.

Visa-Überzieher bleiben ein Problem

Die EU-Kommissarin für Migration und Inneres, Ylva Johansson, wies auf die oft vergessene Tatsache hin, dass die Hälfte aller Asylbewerber und Migranten mit einem gültigen Visum in die EU einreist und dann über die Visumgültigkeit hinaus bleibt und Asyl beantragt. Diese sogenannten Visa-Überzieher seien ein Problem, das man dringend angehen müsse. Man dürfe sich nicht nur auf die "irregulären Ankünfte" über das Mittelmeer oder die Balkan-Route konzentrieren. "Gleichzeitig haben wir (in diesem Jahr) 600.000 Asylanträge in der EU. Das ist mehr als doppelt so viel wie die irregulären Ankünfte. Das zeigt, dass es um weit mehr geht als darum, nur, die irregulären Ankünfte zu verhindern", sagte Ylva Johansson. Man müsse mit den Drittstaaten über diejenigen sprechen, die "legal in der EU mit Flugzeugen ankommen und dann Asyl beantragen." Auf mittlere Sicht soll also die Praxis der Visa-Vergabe durch die EU-Mitgliedsstaaten an Menschen aus Afrika oder Asien überprüft werden. Das würde die Zahlen der Ankünfte wahrscheinlich schneller senken als die langwierig umzusetzenden Bestimmungen des Migrationspaktes.

Die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson steht bei einem EU-Termin in Griechenland am Rednerpult (Archivfoto)
EU-Kommissarin Johansson: Migranten auf dem Mittelmeer sind nicht das einzige ProblemBild: MENELAOS MYRILLAS/SOOC/AFP/Getty Images

Bessere Zusammenarbeit mit Transitländern

Kurzfristiger helfen könnte aus Sicht der belgischen Migrations-Staatssekretärin Nicole de Moor eine bessere Zusammenarbeit mit den Transit- und Herkunftsländern der Migranten. Sie plädiert, wie fast alle Ministerinnen und Minister, seit Jahren für gezielte Abkommen mit nordafrikanischen Staaten, Pakistan oder Bangladesch. "Wir müssen Fortschritte machen in unseren Beziehungen zu Drittstaaten, Transit-Staaten, Herkunftsstaaten. Dort müssen wir investieren, wirtschaftliche Chancen und Ausbildung bieten. Gleichzeitig müssen wir bei der Grenzsicherung und bei Abschiebungen eng kooperieren."

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Das jüngste Abkommen dieser Art, dass die EU geschlossen hat, ist eine Absichtserklärung mit dem autokratisch regierten Tunesien in Nordafrika, das nur 190 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt liegt. Das Abkommen funktioniert kurz gefasst so: Geld und Wirtschaftshilfe gegen das Zurückhalten von Migranten und Schleusern. Nach dem gleichen Prinzip wurde bereits 2016 eine Vereinbarung mit der Türkei getroffen.

Tunesien will nicht Grenzschutz der EU werden

Allerdings läuft die Umsetzung dieser Vereinbarung erst langsam an. Die EU hat kürzlich eine erste Tranche von 67 Millionen Euro nach Tunis überwiesen. Die EU, besonders die italienische Regierung, die das Abkommen mit ausgehandelt hat, erwartet, dass die tunesische Küstenwache nun stärker gegen überbesetzte Schleuserboote in ihrer eigenen Zwölf-Meilen-Zone vorgeht. Im Moment ist die Zahl der Überfahrten aus Tunesien aber noch hoch. Migrationsexperten und der österreichische Innenminister Gerhard Karner sehen eine Art Torschlusspanik: Viele wollten schnell noch das Land verlassen, bevor die tunesische Küstenwache Ernst macht. "Wir müssen jetzt diesen Deal mit Tunesien auch mit Leben erfüllen. Es muss funktionieren oder zu funktionieren beginnen", sagte Gerhard Karner.

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Der tunesische Innenminister Kamel Fekih lehnte es in einem Interview mit der Deutschen Welle in Tunis ab, dass sein Land eine Art Grenzpolizei oder Flüchtlingslager für die Europäische Union spielen könne. "Von Beginn an haben wir betont, dass die Migration nicht bewältigt werden kann, ohne sich mit ihren Ursachen zu befassen (…) Aber Tunesien kann nur seine eigenen Grenzen schützen. Es kann nicht Grenzwächter für andere sein, außer (indirekt), indem es seine eigenen Grenzen überwacht." Tunesien stecke selbst in einer schwierigen Lage und könne eine große Zahl von Flüchtlingen aus Afrika südlich der Sahelzone nicht aufnehmen, so der Innenminister.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union