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Fest entschlossen - Migranten in Libyen

Islam Alatrash
9. Juli 2023

Fast 700.000 Menschen mit ausländischem Pass leben in Libyen. Viele von ihnen sind Migranten, die nach Europa weiterreisen wollen. Aufgeben ist für viele keine Option.

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Libyen, Abu Qurain City | Einsatz gegen Flüchtlingsboot: Zwei Männer in Tarnuniform stehen am Strand, neben ihnen ein Pickup
Flucht übers Mittelmeer vereitelt: Sicherheitskräfte am Strand in LibyenBild: Islam Alatrash

Ali Majdi hat von dem Fischerboot gehört, das erst kürzlich auf dem Weg von Libyen nach Europa vor der Küste Griechenlands kenterte. Er weiß, dass es mit Migranten überladen war und dass vermutlich Hunderte von ihnen ertrunken sind. Trotzdem ist er entschlossen, die Überfahrt nach Europa zu wagen.

Der 28-Jährige ist aus Syrien geflohen und hat bereits einmal versucht, Libyen Richtung Europa zu verlassen. Im Küstenort Sawija zahlte er 1800 Euro an Schlepper und schaffte es an Bord eines Bootes, das das Mittelmeer überqueren sollte. Er hoffte, es bis nach Deutschland zu schaffen, wo seine Familie jetzt lebt, sagt er. Seit acht Jahren hat er sie nicht mehr gesehen.

Doch das Boot wurde von der libyschen Küstenwache abgefangen und gezwungen, nach Libyen zurückzukehren. "Meine Hoffnungen wurden zerschlagen", sagt Majdi zur DW. "Sie zwangen mich, hierher zurückzukehren. Ich war am Boden zerstört. Aber ich bin fest entschlossen, es wieder zu versuchen." Die Risiken seien ihm bewusst, beteuert er. "Aber ich möchte trotzdem über das Mittelmeer. Ich muss nach Deutschland."

Libyen - ein El Dorado für Menschenschmuggler

Majdi ist einer von Hunderttausenden Migranten in Libyen. Einige haben nicht vor weiterzureisen, andere versuchen genau das. Doch während Majdi Arbeit gefunden hat, werden viele in Internierungslagern festgehalten, in denen die Gefahr groß ist, misshandelt zu werden. Zahlen der UN zufolge leben zurzeit 680.000 Ausländer in Libyen und stellen damit mehr als zehn Prozent der Bevölkerung.

Libyen, Sawija | Ein syrischer Migrant arbeitet in einem Kebab-Restaurant
In Libyen hängengeblieben: Majdi hat Arbeit in einem Kebab-Restaurant gefundenBild: Islam Alatrash

Zehn Jahre nach dem Sturz des Diktators Muammar Gaddafi ist das nordafrikanische Land noch immer politisch zerrissen und hat sich zu einem stark frequentierten Zwischenstopp für Migranten entwickelt, gleichgültig, ob sie sich aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen auf den Weg gemacht haben. Denn die Küste Libyens ist nicht allzu weit entfernt von der Italiens oder Griechenlands. Mehr als 56.000 Menschen haben in den ersten drei Monaten dieses Jahres den Weg über das Meer nach Italien gewagt. Etwa die Hälfte davon stach von Libyen aus in See.

Natürlich macht sich Majdi Sorgen wegen der Lebensgefahr, die er mit einem weiteren Überquerungsversuch eingeht, doch er erzählt der DW auch, dass ihm die griechische Küstenwache Furcht einflößt. "Ich habe Angst, dass sie mich daran hindern, zu meiner Familie zu kommen. Ihr Verhalten gegenüber Migranten auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben ist ein schrecklicher Fehler", fügt er angesichts der Tragödie um das Fischerboot "Adriana" hinzu. Das überladene Schiff war im vergangenen Monat gekentert, Hunderte von Menschen starben. Welche Rolle die griechische Küstenwache dabei spielte, ist noch unklar.

Manche Migranten finden in Libyen eine neue Heimat

Es gibt auch Migranten, die in Libyen bleiben wollen. Rida Solan kommt ursprünglich aus Pakistan und wollte zunächst ebenfalls nach Europa, um dort Geld zu verdienen. Experten zufolge reisen Syrer, Pakistaner und Bangladescher oft über zivile Flugrouten aus Syrien nach Libyen ein, während Migranten aus anderen Regionen, zum Beispiel aus Afrika, die Landroute nach Libyen wählen.

Sein erster Versuch, das europäische Ufer zu erreichen, kostete den 31-jährigen Rida Solan 2000 Euro. Er zahlte das Geld an Schlepper im Küstenort Sawija, der als Drehscheibe für den Menschenschmuggel bekannt ist. Doch auch Solan wurde festgenommen und nach Libyen zurückgeschickt, diesmal von den italienischen Behörden. Nun hat er sich entschieden, in Libyen zu bleiben. In einer Saftbar in der Küstenstadt Misrata, etwa 220 Kilometer von Sawija entfernt, hat er Arbeit gefunden und ist froh, Geld sparen zu können.

"Ich schwöre, dass ich nicht wieder an Migration denken oder mein Leben riskieren werde", versichert er der DW. "Ich habe mich entschlossen, hier zu bleiben und in Misrata zu arbeiten, weil es eine der sichersten Städte in diesem Land ist." Mit Blick auf die Lebenshaltungskosten fügt er hinzu: "Libyen ist gut, weil hier alles umsonst ist, auch Strom und Wasser. Ich kann also mehr Geld sparen als in Europa." Denn in Libyen funktioniert zwar die Strom- und Wasserversorgung, doch weil es keinen handlungsfähigen Staat gibt, werden die Gebühren hierfür nur selten eingetrieben.

Werben mit der "sichersten Route" nach Europa

Bis Mitte Juni 2023 wurden 7292 Personen nach Libyen zurückgebracht, meldet die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen. Im selben Zeitraum starben auf der sogenannten zentralen Mittelmeerroute 662 Personen, 368 werden vermisst. Diese Todes- und Vermisstenfälle sind der Grund, warum Menschschmuggler in Libyen mit einer sicheren Reise über das Mittelmeer werben.

Die DW hat einen Schleuser kontaktiert, der auf der Plattform Tiktok für seine Dienste wirbt und damit prahlt, "die sicherste Reise nach Europa" zu bieten. In einem über die soziale Medienplattform geführten Interview betonte der Menschenschmuggler, der seinen richtigen Namen nicht nennen wollte, immer wieder, die Reise mit ihm sei "außerordentlich sicher". Für 2500 Euro pro Person könne er Überfahrten zwischen Tobruk in Libyen und der italienischen Küste organisieren.

Ein weiterer Schlepper machte das gleiche Angebot während eines Gesprächs über Whatsapp. Auch er behauptete, seine Überfahrten nach Europa seien die sichersten, die man in Libyen finden könne.

Ismail arbeitete früher als Sicherheitsmann für die libysche Regierung, bis er sich dem Menschenschmuggel zuwandte. Auch er will wegen seiner Tätigkeit weder seinen vollen Namen noch sein Alter nennen. Weil der Menschenhandel viel bessere Verdienstmöglichkeiten bietet, verließ er seine frühere Stelle. Schließlich zahlte die Regierung sein Gehalt manchmal monatelang nicht, betont er.

Ismael nutzt ebenfalls Tiktok, um Kunden zu werben und spricht über die Direktnachrichtenfunktion der Plattform mit der DW. Er räumt ein, dass seine Werbevideos auf Tiktok ein unrealistisches Bild davon geben, welches Leben die Migranten nach Erreichen ihres Ziels erwartet.

Migranten auf einem kleinen Boot im Meer
Lebensgefahr: Migranten wagen trotz der Risiken die Fahrt übers die MittelmeerBild: Oliver Weiken/dpa/picture allianc

Je nachdem, wie groß das Risiko ist, das sie bereit sind einzugehen, zahlen die Migranten zwischen 500 und 2000 US-Dollar (460 bis 1840 Euro) an Ismail und seine Kollegen. Wer den niedrigeren Preis zahlt, muss sich auf eine Reise auf einem Schlauchboot mit etwa 50 bis 200 Personen einstellen - eindeutig eine gefährliche Option. Die Höchstpreise umfassen auch die Bestechung libyscher Grenzbeamter, die dabei helfen, die Migranten auf Handelsschiffen zu verstecken.

"Die Arbeit ist hart und ermüdend", schreibt Ismail der DW. "Aber sie ist ausgesprochen einträglich und im Schnitt mache ich zwei Überfahrten pro Woche."

Braucht es legale Zugangswege nach Europa?

Ein Mitarbeiter der Küstenwache in Sawija wollte sich nur inoffiziell äußern, weil er nicht mit Journalisten sprechen darf, versicherte der DW jedoch, dass nichts das Geschäft mit den Migranten stoppen könne, solange es so lukrativ sei, diese dabei zu unterstützen, Libyen zu verlassen.

Experten und Menschenrechtsaktivisten betonen, dass die gegenwärtigen Versuche, die zentrale Mittelmeerroute zu unterbinden, nicht funktionieren und nur zu weiteren Toten auf dem Meer und Missbrauch durch die Schleppernetzwerke in Libyen führen. Im April 2023 stellte eine Untersuchung der Vereinten Nationen fest, dass es zu "schweren und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen" kommt und es "hinreichende Gründe zu der Annahme" gäbe, dass in Libyen an Migranten "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verübt worden seien.

Einsatz der libyschen Küstenwache gegen ein Flüchtlingsboot: Männer stehen an einem Boot, neben ihnen ein Pickup
Die libysche Küstenwache im Einsatz - hier gegen ein FlüchtlingsbootBild: Islam Alatrash

2022 argumentierte Marwa Mohamed, Leiterin von Advocacy and Outreach bei Lawyers for Justice in Libya, in einem Kommentar für das European Center for Refugees and Exiles, dass die Europäische Union mehr dafür tun müsse, die in Libyen feststeckenden Migranten und all jene, die in EU-Länder reisen wollten, zu unterstützen. Legale Migrationsrouten unterstützten nicht nur Migranten und verhinderten Tod und Misshandlungen, sie hülfen auch den europäischen Ländern, die drohende Krise auf dem Arbeitsmarkt zu lösen.

"Die beste Möglichkeit, Migranten und Flüchtlinge vor schweren Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen entlang der zentralen Mittelmeerroute zu schützen, ist eine auf Rechten basierende und gemeinschaftliche Antwort auf die Migrationsströme", schloss Mohamed. "Das Austrocknen der Nachfrage und die Entmachtung der Schleuser- und Menschenhandelsnetze wären ein Beitrag zur Bekämpfung des grenzüberschreitenden Verbrechens des Menschenhandels."

Cathrin Schaer hat aus Berlin zu diesem Artikel beigetragen.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.