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Gaza: Hunderttausende Palästinenser von Hunger bedroht

5. März 2024

Im Gazastreifen erreichen lebenswichtige Hilfsgüter kaum die Menschen. Hilfsorganisationen und Verbündete Israels mahnen die Konfliktparteien, Lebensmittelieferungen zu sichern. Ansonsten drohe Vielen der Hungertod.

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Essensausgabe durch Hilfsorganisationen Ende Februar in Rafah
Essensausgabe durch Hilfsorganisationen Ende Februar in der südlichen Grenzstadt RafahBild: Abed Zagout/Anadolu/picture alliance

Das Überleben im Gazastreifen sei ein täglicher Kampf um Grundnahrungsmittel, sagt der Palästinenser Abu Ahmad der DW am Telefon: "Manchmal behelfen wir uns damit, dass wir verlassene oder ausgebombte Häuser plündern, um irgendwie zu überleben."

Nachdem die israelische Armee die Bewohner Ende Oktober aufgefordert hatte, Gaza-Stadt zu verlassen, ist Abu Ahmad mit zweien seiner sechs Kinder geblieben. Der Rest seiner Familie ist über den Gazastreifen verstreut.

Lebensmittel erreichen Nord-Gaza nicht

"Vor zwei Tagen haben wir auf dem Markt Mehl zu einigermaßen erschwinglichen Preisen entdeckt", sagt der 48-Jährige. Am Samstag zuvor hätten sie ein kleines Päckchen ergattert, das per Flugzeug abgeworfen worden war. Jordanien, die USA und andere Länder behelfen sich damit, Pakete mit Lebensmitteln, Fertiggerichten und Medikamenten über dem Gazastreifen abzuwerfen, weil die Versorgung der Bevölkerung mit Lastkraftwagen unzureichend ist. Doch auch das sei nicht annähernd genug, sagt Abu Ahmad.

Seine Schwester sei dazu übergegangen, einfachste Speisen zuzubereiten, damit die Familie irgendetwas in den Magen bekommt, berichtet er: "Wir ernähren uns hauptsächlich von Khobiza." Das vegetarische Gericht ist eine Spezialität der palästinensischen Küche. Normalerweise sind Malvenblätter die Hauptzutat, aber Abu Ahmads Schwester bereitet es aus jeglichem Grünzeug zu, das sie finden kann. Doch ohne Reis oder Brot macht es nicht satt.

"Unser Leid scheint ihnen gleichgültig zu sein"

Um Essbares aufzutreiben, bewege er sich sehr vorsichtig zwischen den verschiedenen Stadtteilen hin und her, erzählt Abu Ahmad. Denn die schweren Kämpfe zwischen der israelischen Armee und der militant-islamischen Hamas gehen unvermindert weiter.

Die Hamas hatte bei einem Terrorangriff am 7. Oktober 2023 in Israel rund 1200 Menschen ermordet und mehr als 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Als Reaktion darauf griffen die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) die Hamas im Gazastreifen an. Ihr erklärtes Ziel: Die Vernichtung der Miliz, die von vielen - vor allem westlichen - Staaten als Terrororganisation eingestuft wird.

Frauen und Kinder warten mit leeren Behältnissen auf Essen
Menschen in Rafah stehen Schlange, um ein paar Kalorien zu ergatternBild: Mohammed Salem/REUTERS

Bis heute hält die Hamas mehr als 130 Geiseln in ihrer Gewalt. Die Kämpfe haben nach Angaben der von der Hamas geführten Gesundheitsbehörde von Gaza mehr als 30.000 Menschen das Leben gekostet. Große Teile des dicht besiedelten Gazastreifens wurden vor allem durch Bombenangriffe der IDF zerstört.

"Keine der Seiten kümmert sich um uns, unser Leid scheint ihnen gleichgültig zu sein", sagt Abu Ahmad. Auch unter den Palästinensern in Gaza selbst gebe es immer wieder Auseinandersetzungen um die knappen Lebensmittel.

Tödliches Rennen um Nahrungsmittel

Vergangene Woche kam es zu einem tödlichen Vorfall, als Tausende versuchten, einen Lastwagen-Konvoi mit Lebensmitteln auf dem Weg nach Gaza-Stadt zu kapern. Laut der Gesundheitsbehörde in Gaza wurden dabei Hunderte Menschen verletzt und mehr als 100 getötet - zerquetscht, überfahren, erschossen. Was genau geschah, darüber gehen die Angaben auseinander.

Männer tragen zwei mutmaßliche Leichen in weiße Tücher gewickelt
Mehr als 100 Menschen wurden getötet, als Tausende versuchten, einen Hilfskonvoi zu kapernBild: AFP

Augenzeugen berichteten, israelische Soldaten hätten das Feuer auf die Menschen eröffnet, als diese versuchten, die Lastwagen zu erreichen. Die IDF teilten am Sonntag mit, eine erste Untersuchung habe ergeben, dass die Mehrheit der Opfer infolge des Ansturms getötet oder verletzt worden seien. Israelische Soldaten hätten lediglich Warnschüsse abgegeben, weil sie sich von "einigen Plünderern" bedroht gefühlt hätten.

Nun häufen sich die Forderungen nach einer unabhängigen Untersuchung. Der französische Präsident Emmanuel Macron drückte auf X, ehemals Twitter, seine "tiefe Empörung" und "stärkste Verurteilung" aus. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock forderte eine lückenlose Aufklärung.

 

UN-Sicherheitsrat fordert "humanitäre Hilfe in gebotenem Umfang"

Hilfsorganisation schlagen seit einiger Zeit Alarm, weil die Bevölkerung vor allem im nördlichen Gazastreifen von akuter Mangelernährung und Hungertod bedroht sei. "Zurzeit erreichen aus Sicherheitsgründen sehr wenige Lebensmittel den mittleren und nördlichen Gazastreifen", sagt Jonathan Crickx, Sprecher des Kinderhilfswerks UNICEF, der sich kürzlich vor Ort ein eigenes Bild von der Lage der Kinder gemacht hat. "Wir schätzen, dass dort weiterhin rund 300.000 Menschen leben."

15 Kinder sind laut der Gesundheitsbehörde in Gaza bereits an Nahrungs- und Wassermangel gestorben. Unabhängig geprüft werden können diese Angaben nicht. Doch auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beklagt ein "alarmierendes Niveau akuter Ernährungsunsicherheit" und hat beide Konfliktparteien aufgefordert, die "sofortige, schnelle, sichere, dauerhafte und ungehinderte Lieferung humanitärer Hilfe in gebotenem Umfang zu erlauben, bereitzustellen und zu ermöglichen".

US-Vizepräsidentin Kamala Harris erklärte am Sonntag, die israelische Regierung müsse ohne Wenn und Aber mehr tun, um die Hilfslieferungen deutlich zu erhöhen.

Israel bezeichnet Vorwürfe als Lüge

Israel weist Vorwürfe von sich, es habe die humanitäre Hilfe an Zivilisten beschränkt, und beschuldigt ihrerseits die Hamas, Hilfsgüter für sich zu nutzen. "Die Idee, Israel begrenze die Hilfe für Zivilisten, ist schlichtweg eine Lüge", schrieb Regierungssprecher Eylon Levy auf dem Online-Dienst X. "Es gibt mehr als genug Zugangsmöglichkeiten an israelischen Grenzübergängen, um mehr zu liefern."

Bewaffnete Soldaten halten einen LKW-Konvoi an
Lastwagen am Grenzübergang Kerem ShalomBild: Enes Canli/Anadolu/picture alliance

Die zuständige Behörde im israelischen Verteidigungsministerium (COGAT) hat mehrfach UN-Organisationen beschuldigt, sie würden Hilfslieferungen in Gaza nicht schnell genug verteilen. Helfer wiederum fordern von Israel, es solle einen weiteren Grenzübergang im Norden des Gebiets öffnen.

Allerdings sind viele Straßen nicht mehr befahrbar - und die schweren Kämpfe stellen weiterhin ein Sicherheitsrisiko im ganzen Gazastreifen dar. Auch die Kontrollen können beschwerlich sein, weil Israel die Lieferung von Waren untersagt, die auch von den Islamisten für militärische Zwecke genutzt werden könnten, darunter Taschenlampen, Generatoren und sogar Krücken.

Ernährungslage auch in Süd-Gaza prekär

Auch die Hilfskonvois seien gefährdet, weil die der Hamas unterstehenden Polizisten in Gaza sie nicht mehr schützten, sagen UN-Mitarbeiter. Bewaffnete Gruppen, aber auch verzweifelte Zivilisten würden die Lastwagen in ihrer Not plündern. "Ein Kollege hat gesehen, wie Menschen, die Wasserflaschen von einem Lastwagen stahlen, nicht einmal damit weggerannt sind, sondern an Ort und Stelle daraus tranken, weil sie so durstig waren", sagt UNICEF-Sprecher Crickx und betont, dass 2,2 Millionen Menschen nicht von humanitärer Hilfe allein leben könnten. Doch die lokale Lebensmittelversorgung ist zusammengebrochen, weil durch die Kämpfe Ernten und Nutzviehhaltungen zerstört worden sind.

Auch im Süden des Gazastreifens ist die Lage deshalb nicht viel besser. Schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen suchen derzeit Zuflucht in Rafah, der Grenzstadt zu Ägypten. Einer von ihnen ist Jamil Gherbawi, der mit seiner Familie aus dem Flüchtlingslager Bureij in Zentral-Gaza vertrieben wurde. "Seit einem Monat leben meine Frau, unsere sechs Kinder und ich nun in einem Zelt nahe Rafah", sagt er am Telefon.

Wenn humanitäre Hilfe für Gaza blockiert wird

Der 50-Jährige arbeitete vor dem 7. Oktober als Schreiner, nun hat er kein Einkommen und ist vollkommen auf Hilfe angewiesen: "Wir verbringen unsere Tage damit, Nahrung und Brennstoff zu suchen. Und wir sind ständig auf dem Sprung, um vor Bomben und Vertreibung zu fliehen."

Kürzlich, sagt er, hätten sie Mehl vom UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA erhalten und Lebensmittelkonserven von anderen Organisationen. "Unser tägliches Essen kommt aus Dosen, die wir über offenem Feuer erhitzen", sagt Gherbawi. So gehe es vielen Menschen. "Unser größter Wunsch ist, dass der Krieg endet. Aber wir wissen nicht wie und wann es so weit sein wird. Wir wollen nur nach Hause und unser Leben wiederaufbauen."

Aus dem Englischen von Jan D. Walter

Anmerkung der Redaktion: Ausländischen Journalisten ist es nicht erlaubt, selbständig in den Gazastreifen einzureisen.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin