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KonflikteArmenien

Geflüchtete aus Berg-Karabach: Es geht nur ums Überleben

Jennifer Pahlke
28. September 2023

Der Massen-Exodus der ethnischen Armenier Berg-Karabachs ist nach jahrzehntelangem Konflikt in vollem Gang. Doch wie es mit ihnen in Armenien weitergehen soll, ist ungewiss.

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Eine Familie mit Kind auf der Ladefläche eines LKW
Flucht in eine ungewisse Zukunft - Menschen aus Berg-KarabachBild: ALAIN JOCARD/AFP/Getty Images

Die Menschen fliehen, wie sie nur können, mit Autos, Treckern und Bussen oder auf Lastwagen. Oftmals sind mehr als vier Personen auf der Hinterbank zusammengequetscht, die Mienen der Fahrer versteinert, die vieler Frauen und Kinder tränenüberströmt. Das Hab und Gut, das sie mitnehmen konnten, ist ebenfalls ins Auto gequetscht worden. Was nicht passt, wurde auf dem Dach festgebunden. Hauptsache weg ist die Devise vieler. Narine Shakaryan, Großmutter von vier Enkelkindern, erzählt: "Wir haben bis hierhin über 24 Stunden gebraucht. Die Kinder waren hungrig und haben geweint. Wir alle haben nichts gegessen!"

Ein Auto mit Gepäck unter einer Plane auf dem Dach
Das Hab und Gut auf dem DachBild: Gilles Bader/PHOTOPQR/LA PROVENCE//MAXPPP/IMAGO

Goris, eine kleine, verschlafene Stadt im Süden Armeniens umgeben von Bergen. Mit etwas über 23.000 Einwohnern gilt sie als regionales Industriezentrum der Provinz Sjunik. Doch diese Idylle trügt. Goris ist auch Mittelpunkt des Massen-Exodus ethnischer Armenier aus Berg-Karabach geworden. Tausende Geflüchtete sind in den letzten Tagen hier eingetroffen.

Registrieren, Bedürfnisse prüfen, weiterleiten

Goris liegt nur 30 Kilometer von Kornidzor entfernt, der ersten Anlaufstelle für die Geflüchteten aus Berg-Karabach. Vier weiße Zelte ragen aus der bergigen Landschaft hervor. Obwohl die Situation auf den ersten Blick chaotisch erscheint, fällt bei genauerer Betrachtung auf, dass alles doch relativ geordnet abläuft. Im größten Zelt werden alle Geflüchteten erst einmal registriert. Freiwillige Helfer geben die Daten in die extra hergebrachten Computer ein und versuchen herauszufinden, welche Unterstützung die Geflüchteten brauchen. Sie fragen, ob sie eine Unterkunftsmöglichkeit in Armenien haben. Vielleicht Verwandte oder Bekannte in der Hauptstadt Eriwan, die sie unterbringen können. Diejenigen, die niemanden haben, werden in Hotels nach Goris gebracht und dann weiter verteilt.

Aber nicht ohne vorher den Gesundheitszustand überprüft zu haben. Einer der Flüchtlinge ist Valeri Hayrapetryan. Zusammengesunken sitzt er nach seiner Registrierung auf einem Stuhl im Zelt des Roten Kreuzes. In der linken Hand hat er einen Gehstock. Immer wieder reibt er sich über das Gesicht, wischt sich die Tränen aus den Augen. Mitarbeiter des Roten Kreuzes knien sich zu ihm, bieten ihm Wasser, etwas zu Essen an. Er winkt ab und deutet auf Familien mit Kindern. Die medizinischen Mitarbeiter bringen ihn dazu, seine Hosenbeine hochzukrempeln - beide Schienbeine weisen Wunden auf, die mit Jod bearbeitet und mit sterilen Pflastern überklebt wurden. Weitere medizinische Hilfe lehnt Valeri ab und er wird schließlich zu einem Bus Richtung Goris begleitet. 

Der Flüchtling Valeri Hayrapetryan auf einem Stuhl, vor ihm kniet ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes
Valeri Hayrapetryan: "Die Aserbaidschaner sind am Morgen in mein Dorf einmarschiert"Bild: Jennifer Pahlke/DW

Große Wut und Leidensgeschichten

Viele Geflüchtete wollen nicht auf Fragen von Reportern antworten. "Nehmt die Kamera aus meinem Gesicht! Hört auf Bilder zu machen! Wir leiden schon genug, und ihr ergötzt euch an unserem Unglück", schreit ein Mann aus einem Bus voller Flüchtlinge. Die Kinder und Frauen, die mit ihm fahren, schluchzen und weinen lautstark. Andere reagieren verärgert, wenn sie Russisch hören. "Verräter! Ihr habt uns verraten! Putin ist ein Mörder", schreit eine Frau russischsprachige Reporter an.

Einige wollen doch reden, ihre Leidensgeschichte erzählen. Valeri Hayrapetryan, der zuvor medizinisch untersucht wurde, erzählt der DW, was er erlebt hat: "Die Aserbaidschaner sind am Morgen in mein Dorf einmarschiert. Die Menschen haben nur das mitgenommen, was sie tragen konnten. Einige konnten gar nichts mitnehmen. Viele haben eine lange Zeit nichts gegessen. Jemand ist sogar vor Hunger umgekippt!"

Eine Frau mit drei Kindern antwortet auf die Frage, wie es den Menschen in Berg-Karabach ergangen ist: "Ich bin den russischen Friedenstruppen so dankbar. Sie haben uns im Flughafen von Stepanakert untergegebracht. Dort haben sie uns mit Essen und Trinken versorgt. Sie selbst haben nichts gegessen, sondern sichergestellt, dass wir alle etwas bekommen. Dann haben sie uns bis hierhin, bis nach Kornidzor gebracht."

Zwei Frauen trösten ein weinendes Kind
Ankunft in Kornidzor - die Kinder leiden besondersBild: Vasily Krestyaninov/AP/picture alliance

Eine Mutter erzählt, dass ihre Kinder nach der Flucht stark traumatisiert seien: "Wir sind nicht geflohen, um zu leben, sondern zu überleben. Heute Nacht hat es gewittert und gedonnert. Meine älteste Tochter ist aufgewacht und hat hysterisch geweint. Ich konnte sie kaum beruhigen. Sie hat die ganze Zeit gesagt, dass auch wir hier wegmüssen, dass die Aserbaidschaner auch hierher kommen. Dass es auch hier Krieg geben wird!"

Am Ende eine Region Berg-Karabach ohne Armenier?

Noch sind nicht alle aus Berg-Karabach geflohen. Nach Schätzungen lebten vor dem Militäreinsatz Aserbaidschans vom 19. September ungefähr 120.000 ethnische Armenier in Berg-Karabach, welches völkerrechtlich als aserbaidschanisches Staatsgebiet anerkannt wird. Nach armenischen Regierungsangaben sind inzwischen 65.000 geflohen.

Aserbaidschan startet Angriff auf Armenier in Bergkarabach

Nach der angekündigten Selbstauflösung Berg-Karabachs zum 1. Januar 2024 erklärte der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan: "Unsere Analyse zeigt, dass es in den nächsten Tagen keine Armenier mehr in Bergkarabach geben wird."

Angehörige, sowohl in Eriwan als auch an der Grenze nach Berg-Karabach, sind krank vor Sorge. Ein Mann erzählt, dass er seit über 24 Stunden keinen Kontakt mehr zu seiner Schwester habe. Er wisse nur, dass sie und ihre Familie von russischen Friedenstruppen nach Stepanakert evakuiert worden seien. "Es ist bereits das zweite Mal, dass sie ihr Haus verlassen musste, zuletzt war es im Jahr 2020. Ich habe einfach keine Worte dafür, wie ich mich fühle. Ich will einfach nur, dass sie sicher hier ankommt", erzählt er der DW.

Russland als Hoffnungsort

Eine Geflüchtete, die ihren Namen nicht nennen will, erzählt wie ihre Pläne für die Zukunft aussehen: "Ich will nicht in Armenien bleiben. Ich habe alles, was ich besessen habe, zurücklassen müssen. Jetzt will ich ein neues Leben anfangen, für meine Kinder. Und das will ich nicht in Armenien. Wir werden nach Russland auswandern! Dort können uns die Aserbaidschaner nicht erreichen!"

Mehr zum Hintergrund des Konfliktes lesen Sie hier.

Jennifer Pahlke, Autorin
Jennifer Pahlke Korrespondentin