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PolitikNahost

Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland nimmt zu

14. November 2023

Inmitten der israelischen Vergeltungsschläge im Gazastreifen berichten Menschenrechtsgruppen von zunehmender Gewalt von Siedlern im Westjordanland. Ein Bericht aus den israelisch besetzten Gebieten.

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Häuser inmitten einer hügeligen Landschaft in Khirbet Susiya, einer palästinensischen Gemeinde im Westjordanland
Khirbet Susyia ist eine palästinensische Gemeinde südlich von Hebron im besetzten WestjordanlandBild: Tania Kraemer/DW

"Die vergangenen Wochen waren extrem schwierig", sagt Halima Khalil Abu Eid. Sie ist Mutter von zwei kleinen Mädchen und lebt in Khirbet Susiya, einem Dorf in den südlich von Hebron gelegenen Hügeln im von Israel besetzten Westjordanland. Vor einem Monat, so erzählt sie es, stürmten israelische Siedler ihr Haus, während die Familie schlief, schlugen ihren Mann und stellten der Familie ein Ultimatum: "Ihr müsst das Haus verlassen. Wenn ihr nicht geht, werden wir euch erschießen. Und ihr müsst euer Haus zerstören."

Seit Beginn des Krieges gegen die Hamas im Gazastreifen, so Abu Eid, haben die Siedler den Druck auf die Bewohner von Khirbet Susiya verstärkt. "Sie plündern, zerstören und terrorisieren uns. Beim letzten Mal haben sie auch meinen Mann und seinen Schwager angegriffen." Eine ihrer Töchter habe sich aus Angst übergeben, erzählt die 29-Jährige.

Die Landwirtin Halima Abu Eid steht vor einem Stall mit Schafen
Die palästinensische Bäuerin Halima Abu Eid sorgt sich um die Zukunft, seitdem sie und ihre Familie von Siedlern bedroht wurden Bild: Tania Kraemer/DW

Die Gemeinde Khirbet Susiya ist seit Jahren Schikanen durch Siedler ausgesetzt, die in den nahegelegenen israelischen Siedlungen und Bauernhöfen leben. Doch seit dem Angriff der militant-islamistischen Hamas, die von der Europäischen Union, den USA und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, habe die Gewalt der Siedler und die Vertreibung von Palästinensern im besetzten Westjordanland "erheblich" zugenommen, teilte das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) mit.

Am 7. Oktober wurden bei dem Angriff der Hamas auf Israel etwa 1200 Menschen in israelischen Gemeinden in der Nähe des Gazastreifens getötet. Rund 240 Menschen wurden gefangen genommen und werden noch immer in Gaza als Geiseln gehalten. Der Angriff führte auch dazu, dass Israel Vergeltungsschläge und eine Bodenoffensive im Gazastreifen startete. Nach Darstellung des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums sollen durch die israelische Bombardierung des abgeriegelten Gebiets seither mehr als 11.000 Palästinenser im Gazastreifen getötet worden sein. Nach wie vor werden auch Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert.

Siedlergewalt im Westjordanland

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen wirkt sich auch auf Palästinenser im Westjordanland aus. Laut OCHA wurden dort seitdem 168 Palästinenser von israelischen Streitkräften und weitere acht von israelischen Siedlern getötet. Drei Israelis starben bei Angriffen von Palästinensern.

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 16 Beduinen- und Bauerngemeinschaften, in denen etwa 1150 Menschen leben, vertrieben und gezwungen, ihre Häuser und Viehställe zu räumen oder abzureißen. Einige mussten dabei auch ihr Hab und Gut zurücklassen. Menschenrechtsgruppen haben mehrere solcher Vorfälle wie in Khirbet Susiya dokumentiert, bei denen bewaffnete Siedler in palästinensische Dörfer eingedrungen sind und die Bewohner bedroht haben, wenn sie diese nicht verlassen würden.

Braune Zelte in der palästinensischen Gemeinde Khirbet Susiya
Die meisten Menschen in Khirbet Susiya leben von der Landwirtschaft und ihren SchafsherdenBild: Tania Kraemer/DW

Khirbet Susiya ist eine kleine Gemeinschaft palästinensischer Familien, die verstreut über hügelige Landschaften wohnen. Die meisten von ihnen sind Bauern und leben von der Landwirtschaft und ihren Schafsherden. Abu Eids einfaches einstöckiges Haus, die Zelte und der Schafstall wirkten an dem Tag, an dem DW sie besuchte, beinahe friedlich. Eine rothaarige Katze döste in der Mittagssonne, während Hühner frei herumliefen. Doch die Bedrohung durch die Gewalt der Siedler scheint wie eine dunkle Wolke über allem zu schweben: "Wohin sollen wir gehen? Was wollen sie von uns? Sie wollen uns nur unsere Häuser wegnehmen; das wissen wir aus der Vergangenheit. Wohin können wir sonst gehen? Das ist unser Haus, das ist unser Zuhause, wir können es nicht verlassen", sagt Abu Eid.

Eingänge zum Dorf zerstört 

Die Bewohner von Khirbet Susiya müssen derzeit über Mauern und Erdhügel klettern, weil die Ein- und Durchgänge zum Dorf blockiert sind. "Am 16. Oktober kamen Siedler in Uniform und Soldaten hierher, darunter ein Bulldozer, der von einem uns bekannten Siedler gefahren wurde", berichtet Nasser Nawaj'ah, ein Aktivist der israelischen Menschenrechtsgruppe B'Tselem, der ebenfalls in Khirbet Susiya lebt. "Sie blockierten alle Zufahrtswege nach Susiya und beschädigten auch zwei Wasserzisternen." Laut Nawaj'ah wurden noch eine weitere Zisterne beschädigt und einige Wasserleitungen durchtrennt. 

Der Aktivist Nasser Nawaj'ah steht vor einer steinigen, hügeligen Landschaft und schaut in die Kamera
Der palästinensische Aktivist Nasser Nawaj`ah lebt in Khirbet Susiya und ist Aktivist der israelischen Menschenrechtsgruppe B´TselemBild: Tania Kraemer/DW

Einige der Bewohner sind jetzt auf die Anwesenheit israelischer Aktivisten angewiesen, die rund um die Uhr im Dorf Wache halten. Doch auch diese Aktivisten seien in mehreren Gebieten angegriffen und von Siedlern - einige von ihnen in Militäruniform - schikaniert worden, heißt es. Yehuda Shaul ist ein israelischer Aktivist und Mitbegründer der israelischen Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence. Mittlerweile arbeitet er für eine andere Organisation namens Ofek und verbringt derzeit einen Großteil seiner Zeit in den südlichen Hebron-Hügeln, um den Dorfbewohnern zu helfen.

"Jahrelang hat das Militär nicht eingegriffen, um die Palästinenser zu schützen", sagt Shaul im Gespräch mit der DW, "aber seit dem 7. Oktober, als der Krieg begann, ist es so, dass die schnellen Eingreiftruppen der Siedlungen - bestehend aus örtlichen Siedlern - zum Reservedienst rekrutiert wurden und jetzt in Uniform mit Waffen und voller Ausrüstung mit der Autorität von Soldaten ausgestattet sind." Die Palästinenser hätten im Grunde nichts mehr, um sich zu schützen, fügt er hinzu.

Das israelische Militär teilte in einer offiziellen Erklärung mit, dass "die Aufgabe der IDF darin besteht, die Sicherheit aller Bewohner des Gebiets aufrechtzuerhalten und zu handeln, um Terrorismus und Aktivitäten zu verhindern, die die Bürger des Staates Israel gefährden. In Fällen von Gesetzesverstößen durch Israelis ist in erster Linie die israelische Polizei für die Bearbeitung dieser Fälle zuständig."

Die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) erklärten aber weiter auch, dass Soldaten in der Gegend auf gewalttätige Vorfälle stoßen, die sich gegen Palästinenser oder deren Eigentum richten. "In diesen Fällen sind die Soldaten verpflichtet, einzugreifen, um die Verletzungen zu stoppen und gegebenenfalls die Verdächtigen bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten." In Situationen, in denen Soldaten den Anweisungen der IDF nicht folgen, würden die Vorfälle gründlich überprüft und entsprechende disziplinarische Maßnahmen ergriffen, heißt es in der Erklärung. 

Mehr Angriffe gegen Palästinenser verzeichnet

Über 240 Angriffe israelischer Siedler gegen Palästinenser hat es laut OCHA seit dem 7. Oktober gegeben. Die Vereinten Nationen bestätigten einen bedeutsamen Anstieg dieser Vorfälle mit durchschnittlich sieben Attacken pro Tag, im Vergleich zu drei vor Beginn des aktuellen Konflikts. 

Diese Angriffe haben dazu geführt, dass ganze Gemeinden, insbesondere im sogenannten Bereich C, der etwa 60 Prozent des besetzten Westjordanlands ausmacht, vertrieben und geräumt wurden. Der Bereich C wurde im Jahr 1995 im Rahmen der Osloer Abkommen geschaffen und sollte schrittweise der palästinensischen Verwaltung übertragen werden. Das Gebiet befindet sich aber nach wie vor unter vollständiger israelischer Sicherheits- und Verwaltungskontrolle.

Bei einem kürzlichen Besuch im Westjordanland warnte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock davor, die Region in einen Sog der Gewalt geraten zu lassen. US-Präsident Joe Biden verurteilte die Gewalt im Westjordanland ebenfalls und forderte ein sofortiges Ende der Angriffe durch die Siedler. Der israelische Aktivist Shaul forderte unterdessen, dass die internationale Gemeinschaft eine politische Lösung findet. "Ein palästinensischer Staat lässt sich nicht aus 165 voneinander isolierten Enklaven, umgeben von Siedlungen und einem von Siedlern dominierten Bereich C, schaffen", sagt er. "Ohne die Einbeziehung von Bereich C gibt es keine Zwei-Staaten-Lösung für die Palästinenser."

Mehrere Schafe stehen in einem Stall
Schafe palästinensischer Hirten: Viele Menschen im besetzten Westjordanland blicken in eine düstere ZukunftBild: Tania Kraemer/DW

Für einige Palästinenser kommt jegliche Hilfe offenbar zu spät. Wie etwa für Salah Awad, ein Hirte aus einer benachbarten Gemeinde. Er hat sein Zuhause wegen wiederholter Angriffe und Bedrohungen von Siedlern bereits am 15. Oktober verlassen. "Sie kamen jeden Freitag und Samstag, zerstörten Dinge, bedrohten uns. Ich hatte genug und bin weggegangen", erzählt er. Er sei bereits mehrmals wegen Einschüchterungen und Belästigungen umgezogen. An seinem neuen Wohnort - ohne Weideland für seine Schafen und Ziegen - fragt er sich, wie es nun weitergehen soll. "Ich bin ein Hirte", sagt er. "Ohne meine Schafe bin ich nichts. Was soll ich tun?" Der junge Mann sieht wenig Aussicht auf Hilfe, um sein Schicksal zu wenden. "Niemand kümmert sich um uns."

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Adaptiert aus dem Englischen von Silja Thoms.

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Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin