1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteIsrael

Hamas-Geiseln: Anteilnahme hilft Familien der Opfer

Tania Krämer | Felix Tamsut
3. November 2023

Weit über 200 Menschen hat die Hamas aus Israel verschleppt. Ihr Schicksal bewegt auch Menschen in Deutschland. Die DW hat mit der Familie einer Geisel gesprochen, die von Fans des SV Werder Bremen unterstützt wird.

https://p.dw.com/p/4YNKV
Hersh Goldberg-Polin und seine Eltern lächeln von einer Rehling oder einer Kaimauer in die Kamera, im Hintergrund Wellen
Hersh Goldberg-Polin mit seinen Eltern, bevor er von der Hamas entführt wurdeBild: Privat

Die letzten Nachrichten, die Rachel Goldberg von ihrem Sohn Hersh Goldberg-Polin empfangen hat, kam am 7. Oktober um 08:11 Uhr morgens. "Die erste lautete 'Ich liebe dich.', die zweite 'Es tut mir leid.'", erzählt Goldberg der DW in der Wohnung der Familie in Jerusalem.

Das ist drei Wochen her. Seitdem hat die US-israelische Familie kein Lebenszeichen mehr von dem 23-Jährigen erhalten, den die Hamas in den Gazastreifen verschleppt hat.

An jenem Morgen ist die Hamas nach Israel eingedrungen und hat dort nach israelischen Angaben mehr als 1400 Menschen ermordet, weit mehr als 200 wurden als Geiseln genommen. Das erklärte Ziel der Hamas ist die Auslöschung des Staates Israel; die militant-islamistische Organisation gilt in Israel, Deutschland, den USA, der EU und weiteren, auch islamischen Staaten als Terrororganisation.

Sorge um unschuldige Opfer

Die erneute Reise von US-Außenminister Antony Blinken nach Israel macht der Familie neue Hoffnung auf Verhandlungserfolge. Auf der anderen Seit wächst ihre Sorge, dass das Vorrücken israelischer Truppen in den Gazastreifen das Leben der Geiseln zusätzlich gefährden könnte.

Eine Menschenreihe mit Fotos von Gekidnappten und Israel-Flaggen
Vor dem UN-Hauptquartier in New York demonstrieren Menschen für die Freilassung der Hamas-GeiselnBild: David Dee Delgado/Getty Images

"Ich mache mir große Sorgen über das, was vor sich geht", sagt Goldberg. Dabei denkt sie nicht nur an ihren Sohn: "Die Geiseln stammen aus vielen verschiedenen Ländern, gehören allen möglichen Ethnien und Religionsgruppen an, glauben an unterschiedliche Dinge. Aber da sind auch zwei Millionen unschuldige palästinensische Zivilisten, die nicht verletzt werden wollen."

Erst fünf Geiseln befreit

Neben Israelis hält die Hamas auch Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft gefangen, ältere Menschen und Kinder, Zivilisten sowie Mitarbeiter der Israelischen Armee (IDF). Bisher hat die Hamas erst vier Geiseln freigelassen, eine weitere hat die IDF nach eigenen Angaben befreit. Katar, Ägypten sowie weitere Akteure der Region haben versucht, mit der Hamas über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln.

Als sie Hershs Nachrichten an jenem verhängnisvollen Morgen des 7. Oktober sah, sagt Goldberg, habe sie sofort gewusst, dass irgendetwas grundlegend nicht in Ordnung war. Von guten Freunden ihres Sohnes habe sie dann erfahren, dass er zusammen mit seinem besten Freund Anar Shapira auf das Supernova Music Festival im Kibbutz Re'im nahe der Grenze zum Gazastreifen gegangen war.

Israel weitet Bodenoperationen in Gaza aus

Am Samstagmorgen tanzten noch Hunderte Partygänger auf dem Rave, als die Hamas die Hightech-gesicherte Grenze durchbrach und gleichzeitig mit motorisierten Gleitschirmen auf das Festivalgelände vordrang. Über mehrere Stunden machten die Terroristen Jagd auf die Besucher, töteten mindestens 260 von ihnen vor Ort und nahmen Geiseln.

Schwerstverletzt nach Gaza entführt

Unter ihnen: Hersh Goldberg-Polin - Fußballfan, Musikliebhaber und ehemaliger Sanitäter in der Armee. Seit seinem Verschwinden hat die Familie versucht herauszufinden, was genau ihm widerfahren ist. So viel ist klar: Er und sein Freund Anar Shapira wurde zuletzt in einem kleinen Schutzraum gesehen, in dem einige Partygänger versucht hatten sich zu verstecken. Doch sie wurden bald entdeckt, und die Terroristen warfen Granaten in den Schutzraum.

Shapira habe mehrere Granaten zurückgeworfen, bevor eine ihn tötete. Goldberg-Polin wurde mit anderen Überlebenden auf einen Pickup gezwungen. Ein Video von der Szene zeigt Goldberg-Palin, wie er auf die Ladefläche steigt: Anstelle seines linken Arms ist ein blutiges Kleidungsstück zu erkennen, es sieht aus, als fehle der untere Teil des Arms.

"Soweit wir wissen, ist er aus eigener Kraft auf die Ladefläche gestiegen, offenbar hatte er es geschafft, die Blutung zu stoppen", sagt seine Mutter. "Aber er könnte zehn Minuten später verblutet sein und wir wissen es nicht einmal."

"Als Mutter kann ich nur beten"

Doch Goldberg will die Hoffnung nicht aufgeben: "Ich weiß, dass es überall gute Menschen gibt. Ich weiß, dass es in Gaza gute Menschen gibt, und ich weiß, dass es dort Menschen gibt, die das Richtige tun können. Als Mutter kann ich nur beten, dass er irgendwie operiert wurde und die Medikamente bekommt, die er weiterhin brauchen würde."

Auch die quälenden Berichte halten Goldberg nicht davon ab zu hoffen, dass die internationalen Bemühungen doch noch dazu führen, dass die Hamas weitere Geiseln lebend freilässt.

Gaza: Keine Waffenruhe in Sicht

Seit dem Terrorangriff am 7. Oktober hat die israelische Armee nach eigenen Angaben Hunderte Stellungen der Hamas bombardiert. Inzwischen habe sie auch ihre Bodenoffensive ausgeweitet und Gaza-Stadt umstellt. Nach Angaben der Hamas-kontrollierten Gesundheitsbehörden hat sie dabei mehr als 9000 Menschen getötet.

Unterstützung von Fußballfans aus Bremen

Goldberg-Polin wuchs in Israel auf, wurde jedoch in der kalifornischen Stadt Berkeley geboren. Dort lebte seine Familie, bevor sie nach Jerusalem zog, als er noch ein Kind war. Gemeinsam mit anderen US-israelischen Familien nahmen die Goldbergs an einer Videokonferenz mit US-Außenminister Anthony Blinken teil, als dieser im Oktober in Israel war. Die Unterstützung der US-Regierung sei großartig, sagt die Familie. Was außerdem helfe, sei die Solidarität von Freunden und Fremden - zuhause und im Ausland.

Als glühender Anhänger des Fußballclubs Hapoel Katamon Jerusalem war Goldberg-Polin schon mehrfach zu Besuch in Deutschland, genauer: beim SV Werder Bremen. Die beiden Vereine verbindet eine langjährige Fanfreundschaft.

Werder Bremen und mehrere seiner Fangruppen haben Goldberg-Polins Schicksal in die Öffentlichkeit getragen. Allen voran die Fangruppe "The Infamous Youth", die mit der "Brigade Malcha" aus Jerusalem in engem Kontakt steht, hat den norddeutschen Verein um Unterstützung gebeten. Beide Fanclubs sind in der Szene bekannt für ihre linke, anti-faschistische Haltung.

Ein Foto von Hersh Goldberg-Polin in Werder-T-Shirt auf der Anzeigetafel im Bremer Weserstadion
Werder Bremen macht im Stadion auf das Schicksal von Hersh Goldberg-Polin aufmerksamBild: Privat

Der Verein stimmte zu und macht über seine Social-Media-Kanäle und die Anzeigetafel im Stadion auf Goldberg-Polins Entführung aufmerksam, um Solidarität mit der Familie zu zeigen. Fangruppen von Werder Bremen und anderen deutschen Vereinen haben zudem Spendenkampagnen für die Opfer des Hamas-Terrors und ihre Familien gestartet.

Jede Solidarität zählt - auch rein symbolische

Arne aus Bremen ist seit Jahren Infamous-Youth-Mitglied und nennt Goldberg-Polin einen Freund. Er erinnert sich an die Besuche der Hapoel-Fans: "Hersh war einer, der die Freundschaft zwischen unseren Gruppen sehr ernst genommen hat."

Auch die Werder-Fans seien schon mehrfach in Israel gewesen, erzählt Arne. Daher würden sie die Realität dort kennen und nicht zuletzt deshalb gingen ihnen die Entführungen auch so nah: "Wir tun alles, um unseren Freunden zu zeigen, dass wir an sie denken - sei es durch Banner oder Spenden für ihre Familien - selbst, wenn es nur symbolisch ist."

In Jerusalem ist man dafür sehr dankbar: "Es ist so wichtig, diese wunderschöne Community in Bremen zu haben, dass diese Kinder, oder besser jungen Erwachsenen, sich an uns wenden", sagt Rachel Goldberg.

Die Familie werde weiterhin alles daransetzen, ihren Sohn nach Hause zu holen: "Die Wahrheit ist ja: Hersh ist nur mein Hersh, aber es gibt 249* Hershs. Und wir werden versuchen, jeden von ihnen nach Hause zu holen."

* Die offizielle israelische Zahl der Geiseln beträgt bei Publikation dieses Artikels 241.

Aus dem Englischen von Jan D. Walter

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin