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Hiroshima-Überlebende: Wie Erinnerung bewahrt werden kann

Aimie Eliot
5. August 2023

Die 1945 über Hiroshima abgeworfene Atombombe tötete 136.000 Menschen und löschte innerhalb von Sekunden eine ganze Stadt aus. 78 Jahre danach kämpft die Folgegeneration gemeinsam mit Überlebenden gegen das Vergessen.

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Menschenmenge steht im Dunkeln, halten Kerzen in der Hand.
Gedenken und Mahnung: Mit Kerzen erinneren Überlebende und Nachfahren an die Tragödie von HiroshimaBild: Takuya Yoshino/The Yomiuri Shimbun/AP Photo/picture alliance

"Ich vergleiche die Explosion oft mit einem Taifun, nur tausendmal stärker", sagt die 90-jährige Sadae Kasaoka, während sie auf der Bühne des Hiroshima Memorial Peace Museum steht. Sie weigert sich, ein Mikrofon zu benutzen. Das ist auch nicht nötig, denn ihre Stimme ist klar und kraftvoll. Hin und wieder unterbricht sie ihre lebhafte Rede für einen kurzen Moment der Stille, schließt die Augen, so als ob sie sich den unbegreiflichen Schmerz jenes Augustmorgens im Jahre 1945 noch einmal vergegenwärtigen wolle.

Bei dem Atombombenangriff auf Hiroshima, bei dem zehntausende Menschen innerhalb weniger Minuten verglühten, verlor Sadae Kasaoka ihre Eltern. Sie habe Glück gehabt, erzählt sie, denn zu diesem Zeitpunkt hielt sich die damals 12-Jährige im Haus der Familie auf, das mehr als drei Kilometer vom Epizentrum der Explosion entfernt lag. Dennoch seien Glassplitter der zerborstenen Fenster in ihre Haut eingedrungen. Sie erzählt von ihrem Vater, den der Bruder im Flammen-Chaos fand und nach Hause brachte - zur Unkenntlichkeit verbrannt. Und von dem Warten auf ihre Mutter, die nie zurückkehrte.

Alte japanische Frau mit Brille und Kurzhaarfrisur spricht und hält den Zeigefinger nach oben
Hiroshima-Überlebende Sadae Kasaoka: "Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert"Bild: Rodrigo Reyes Marin/ZUMAPRESS.com/picture alliance

Neben der 90-Jährigen sitzt Norie Hosomitsu. Sie wurde eine Generation später geboren und blickt gebannt auf die Zeitzeugin, jedes Wort scheint sie sich genau einprägen zu wollen. Hosomitsu setzt sich dafür ein, die Lebensgeschichten der "Hibakusha" zu bewahren, damit die Welt nicht vergisst. Das Wort Hibakusha setzt sich aus "Hi" für "Leiden", "baku" für "Bombe" und "sha" für "Mensch" zusammen. Als Hibakusha werden also jene Japaner bezeichnet, die die Atombombenabwürfe überlebt haben. 

Am 6. August 1945 warfen US-Streitkräfte eine Atombombe über der japanischen Stadt ab, um Japan im Zweiten Weltkrieg zur Kapitulation zu zwingen. Innerhalb von Sekunden war Hiroshima ausradiert. Es war das erste Mal, dass eine Nation eine Atombombe gegen ein anderes Land einsetzte. Durch die Detonationswelle wurden 80 Prozent der Gebäude sofort zerstört, ein darauf folgender Feuersturm vernichtete weitere Teile der Großstadt. Neben den Opfern, die sofort umkamen, tötete die freigesetzte nukleare Strahlung in den Folgewochen zehntausende Menschen. Noch viele Jahre später starben  ehemalige Bewohner der Stadt an Krebserkrankungen - eine Langzeitfolge der Strahlung.

Trümmerlandschaft mit verbrannten Baumstämmen.
Die Detonation der Atombombe führte zu einer riesigen Explosionswolke und Feuerstürmen, die Hiroshima innerhalb von Sekunden verwüstetenBild: Moritz Wolf/imageBROKER/picture alliance

Von Generation zu Generation: Lebensgeschichten weitergeben

Die 60-jährige Norie Hosomitsu ist Teilnehmerin einer von der Stadt Hiroshima ins Leben gerufenen Initiative, bei der jüngere Japanerinnen und Japaner die Lebensgeschichte eines Überlebenden aufschreiben und sie öffentlich vorstellen. Seit neun Jahren erzählt nun auch Hosomitsu Kasaokas Geschichte, unter anderem vor Schulklassen. "Sadae Kasaokas Persönlichkeit und ihr Zeitzeugnis haben mich sehr berührt", sagt sie. "Als wir uns trafen, spürte ich gleich, dass die Chemie zwischen uns stimmte." Ihre Vorträge beende sie stets mit einem Appell: "Frieden entsteht nicht, indem wir uns zurücklehnen und abwarten. Jeder von uns hat die Verantwortung, Frieden zu schaffen."

Japanische Frau im gestreiften Hemd hält einen Vortrag.
"Frieden entsteht nicht, in dem wir uns zurücklehnen und abwarten." Norie Hosomitsu erzählt als Nachfolgerin von HiroshimaBild: Aimie Eliot/DW

Da das Durchschnittsalter der Überlebenden derzeit bei 85 Jahren liegt, wird es nun immer wichtiger, weitere Nachfolger und Bewahrer der erschütternden Lebensgeschichten auszubilden. So hat sich laut Dan Shioka vom International Peace Promotion Department in Hiroshima die Zahl der Hibakusha bereits drastisch verringert. "Es ist dringend nötig, dieses Erbe weiterzugeben, bevor die Erinnerung ausstirbt", sagt er und fügt hinzu, dass man bereits  die Ausbildungszeit verkürzt habe, um die Beteiligung an dem Projekt zu steigern.

Kampf für nukleare Abrüstung

Nach der unvorstellbaren menschengemachten Tragödie begannen die Überlebenden bald mit dem Wiederaufbau der Stadt - und mit dem Kampf für Frieden und nukleare Abrüstung. Im Jahr 1955 wurde das Netzwerk "Mayors for Peace" (Bürgermeister für den Frieden) gegründet; es besteht aus mehr als 8.000 Gemeinden, die sich für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzen. Als der G7-Gipfel im Mai 2023 in Hiroshima tagte, wandte sich das Netzwerk in einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs. Darin forderten sie "sofortige Maßnahmen zur Reduzierung der Atomwaffenarsenale und zur Beendigung ihrer Modernisierung".

Auf dem Boden liegen zahlreiche Bücher mit japanischen Schriftzeichen, davor knien junge Leute
Hiroshima Peace Memorial Park: In diesen Büchern sind einige Namen der rund 140.000 Todesopfer festgehaltenBild: Takuya Yoshino/The Yomiuri Shimbun/AP Photo/picture alliance

Doch die gemeinsame G7-Erklärung, die sogenannte "Hiroshima-Vision", ernüchterte die Friedensaktivisten. Zwar bekräftigten die führenden Wirtschaftsmächte darin ihren Willen zur nuklearen Abrüstung, konkrete Pläne waren allerdings nicht enthalten. Die nukleare Abschreckung scheint weiterhin Kernbestandteil der westlichen Verteidigungsstrategie zu bleiben. Bislang hat noch kein Mitglied der G7 oder der Nato den 2021 in Kraft getretenen UN-Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet.

"Ich war enttäuscht", sagt Norie Hosomitsu. "Aber ehrlich gesagt hatte ich auch keine großen Erwartungen."

Erinnerung von Angesicht zu Angesicht

Während die Überlebenden und ihre bisher 250 ausgebildeten Nachfolger weiterhin darauf warten, dass Atomwaffen vollständig verboten werden, verbreiten sie in eindringlichen biografischen Vorträgen unermüdlich ihre Botschaft. Organisiert werden die Auftritte vom Hiroshima Memorial Peace Museum.

Riesiges Foto von einer Trümmerlandschaft, davor stehen Museumsbesucher.
Das Hiroshima Peace Memorial Museum zeigt Fotos der zerstörten Stadt Bild: Aimie Eliot/DW

Das Museum wurde 2019 renoviert. Fotografien von Verwundeten, zerfetzte Kleidung und zerborstene Alltagsgegenstände verleihen den Zeitzeugen-Berichten hier den nötigen Kontext. Doch für Norie Hosomitsu geht nichts über eine persönliche Begegnung: "Wir haben bereits viele Videointerviews mit Zeitzeugen, aber die Gespräche, die wir führen, sind von Angesicht zu Angesicht. Wir drücken unsere Leidenschaft und unsere Emotionen über unsere Mimik und unseren Atem aus. Und jedes Gespräch ist eine offene Tür für einen Dialog, für eine Interaktion."

Sadae Kasaoka wurde - wie viele Hibakusha - jahrzehntelang diskriminiert und stigmatisiert. Die  Menschen in ihrem Umfeld hatten Angst vor radioaktiver Strahlung und möglichen gesundheitlichen Auswirkungen auf sich selbst. Einige Arbeitgeber weigerten sich gar, Hibakusha einzustellen, auch in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen wurden einige aufgrund ihrer Strahlenkrankheit ausgegrenzt oder benachteiligt.

In einem Museumsschaukasten sind zerfetzte Kleidungsstücke und Alltagsgegenstände zu sehen.
Kleidung und Taschen von Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Hiroshima am 6. August 1945Bild: Takuya Yoshino/The Yomiuri Shimbun/AP Photo/picture alliance

Vor 20 Jahren hat sich Kasaoka schließlich das erste Mal öffentlich geäußert. Seitdem bringt sie niemand mehr zum Schweigen. "Als Kind träumte ich davon, Lehrerin zu werden. Aber mit nur einer einzigen Atombombe wurden Träume, Hoffnungen und die Zukunft ausgelöscht. Es ist meine Aufgabe, die Erinnerung an diese Tragödie weiterzugeben und dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert", sagt sie. Dann blickt sie zu Hosomitsu. "Ich möchte ewig leben und ich möchte, dass meine Geschichte weitergegeben wird. Die Folgegeneration macht das möglich."

Überlebenden erinnern an Atombombe von Hiroshima

Adaption aus dem Englischen: Nadine Wojcik.