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Holocaust-Gedenken: "Es war nie wichtiger als jetzt"

31. Januar 2024

Mit eindringlichen Aufrufen zum Widerstand gegen Antisemitismus erinnert der Bundestag an die Millionen Opfer der NS-Diktatur. Es sprechen auch die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi und der Sportjournalist Marcel Reif.

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Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi steht bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages nach ihrer Rede zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und  Bundestagspräsidentin Bärbel Bas
Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi nach ihrer Rede im Bundestag, neben ihr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Bild: picture alliance/dpa

"Die Shoah begann nicht mit Auschwitz. Sie begann mit Worten und sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft", betonte Eva Szepesi, die das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau der Nationalsozialisten überlebt hatte. Die 91-Jährige sagte bei der offiziellen Holocaust-Gedenkstunde des Deutschen Bundestags in Berlin, es schmerze sie, dass Juden auch heute deswegen angegriffen werden, weil sie Juden sind.

Es erschrecke sie, wenn rechtsextreme Parteien wieder gewählt würden. Sie fühle sich "noch" beschützt durch die Demokratie in Deutschland. Gleichzeitig rief Szepesi dazu auf, nicht nur gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren, sondern auch im Alltag menschenfeindlichen Aussagen zu widersprechen. "Es war nie wichtiger als jetzt. Denn 'Nie wieder' ist jetzt", betonte sie unter dem anhaltenden Applaus des vollen Plenums.

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der frühere Bundesratspräsident Norbert Lammert und Altbundespräsident Horst Köhler sitzen nebeneinander auf der Tribüne
Die 102 Jahre alte Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der frühere Bundesratspräsident Norbert Lammert und Altbundespräsident Horst Köhler verfolgen von der Tribüne aus die Gedenkstunde Bild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Szepesi, die erst seit 1995 über die NS-Verbrechen spricht, ging auch auf den beispiellosen Terrorüberfall der Hamas und anderer militanter Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 ein. Dies sei ein Tag gewesen, "der für uns Juden alles veränderte". Auch ihr Alltag in Deutschland sei seitdem geprägt von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, antisemitischen Vorfällen und Ängsten. Lesungen von ihr seien abgesagt worden, weil die Veranstalter für ihre Sicherheit nicht hätten garantieren können. Szepesi beklagte in dem Zusammenhang ein "lautes Schweigen der Mitte der Gesellschaft" und "Gespräche, die mit 'Ja, aber' beginnen". 

Sie wünsche sich, dass nicht nur an Gedenktagen und nicht nur an die ermordeten Opfer des Holocausts erinnert werde, sondern auch an die Überlebenden. "Sie brauchen jetzt Schutz", sagte Szepesi.

Szepesi stammt aus einer jüdischen Familie und wurde 1932 in einem Vorort der ungarischen Hauptstadt Budapest geboren. 1944 deportierten sie die Nationalsozialisten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Sie erlebte die Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 durch sowjetische Soldaten der Roten Armee und überlebte als eines der wenigen Kinder die Verbrechen der Nazis. 

"Die zweite Chance nicht verspielen"

Der 1949 in Polen geborene Sportjournalist Marcel Reif sprach anschließend als Vertreter der zweiten Shoah-Generation. Sein Vater war ein polnischer Jude, der während des Zweiten Weltkriegs nur knapp der Verschleppung ins KZ durch die Nazis entkommen konnte.

"Sei ein Mensch": Marcel Reif beim Holocaust-Gedenken im Bundestag

Reif mahnte Deutschland, die zweite Chance nach dem Holocaust nicht zu verspielen. Die "großen Demonstrationen der Aufrechten machen mir Hoffnung", betonte er. Seine Familie sei nach dem Krieg über Polen und Israel nach Deutschland, in das "Land der Täter", zurückgezogen. Sein Vater habe lange über den Holocaust geschwiegen. Er selbst habe nicht gefragt - aus Angst, unfassbares zu hören.

"Sei ein Mensch"

Sein Vater habe die Kinder so vor den furchtbaren Schatten der Vergangenheit bewahren wollen. Irgendwann sei ihm aber klar geworden, dass sein Vater ihm seine Lebenserfahrung dennoch mitgeteilt habe, nämlich mit drei Worten in dem einfachen Satz: "Sei ein Mensch". Dieses "Vermächtnis" wolle er jetzt weitergeben.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am Rednerpult im Bundestag
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zum Auftakt der Gedenkstunde: "Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart"Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Eröffnet wurde der offizielle Gedenkakt im Parlament durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Sie erinnerte an die sechs Millionen ermordeten Juden in Europa, an die Sinti und Roma sowie an "die wegen ihrer politischen Überzeugung, ihres christlichen Glaubens oder als Zeugen Jehovas verfolgten Menschen", die queeren Menschen und an die Opfer der sogenannten Euthanasie. Der Holocaust sei auch für die Überlebenden nie aus ihrem Leben verschwunden, betonte Bas. "Es erfüllt mich mit Scham, dass den Überlebenden lange niemand zuhören wollte."

Eindringlich forderte Bas die Menschen in Deutschland dazu auf, sich gegen Antisemitismus und Hass zu stellen. "Lassen Sie uns alle den Mut haben, nicht zu schweigen, sondern Hass und Menschenfeindlichkeit entschlossen entgegenzutreten", sagte die SPD-Politikerin.

Gedenken an den Holocaust wichtiger denn je

"Unsere Demokratie ist lebendig und wehrhaft"

Bas dankte den Hunderttausenden Menschen, die in den vergangenen Wochen für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen seien. "Sie alle haben gezeigt: Unsere Demokratie ist vielfältig, lebendig und wehrhaft." Auch im Alltag gelte es dagegenzuhalten, wenn man antisemitische und rassistische Parolen höre, ob in der U-Bahn oder im Kollegenkreis oder in der Schule. "Jede und jeder Einzelne kann zeigen: Wir sind eine Gesellschaft, die jeden einzelnen Menschen achtet, unabhängig von Religion, Herkunft oder Aussehen."

"'Nie wieder' war, ist und bleibt eine Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft", sagte Bas und wies darauf hin, seit dem Hamas-Angriff auf Israel vom 7. Oktober seien hierzulande mehr als 2000 antisemitische Straftaten begangen worden. "Dieser Ausbruch des Antisemitismus ist eine Schande für unser Land."

Blick auf den vollen Sitzungssaal während der Gedenkstunde
Blick auf den Sitzungssaal während der Gedenkstunde Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Die Bundestagspräsidentin betonte: "Judenhass ist kein Problem nur der Vergangenheit. Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart." Das zeige sich "insbesondere in erschreckender Weise seit dem 7. Oktober, seit dem barbarischen Hamas-Terrorangriff auf Israel".

"Perspektive des friedlichen Zusammenlebens - auch in Nahost"

Deutschland wolle dabei unterstützen, "eine Perspektive des friedlichen Zusammenlebens in Nahost zu schaffen", sagte Bas weiter. Es sei "ein Gebot der Menschlichkeit, das Leid aller Menschen zu sehen", so die Parlamentspräsidentin. "Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza genauso wie das Leid der Geiseln, die seit dem 7. Oktober in der Gewalt der Hamas sind."

Die Gedenkstunde des Bundestages findet traditionell rund um den Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 statt. Die Nazis hatten dort etwa 1,1 Millionen Menschen ermordet. 1996 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer der NS-Diktatur proklamiert. Im November 2005 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, die den 27. Januar zum weltweiten Gedenktag macht.

se/sti (phoenix, epd, kna, dpa, afp, rtr)

Meine ermordete Familie - Sinti im Holocaust