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Judenhass "tief verankert" in der Gesellschaft

10. Mai 2022

Eine neue Studie nimmt den Antisemitismus in Deutschland in den Blick. Besonders negativ fallen AfD-Anhänger und religiöse Muslime auf. Aber allen Parteien gilt die Kritik.

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Deutschland Hagen | Polizei vor Synagoge nach möglicher Gefährdungslage
Die Polizei vergangenes Jahr vor einer Synagoge nach möglicher Gefährdungslage Bild: Markus Klümper/Sauerlandreporter/dpa/picture alliance

Die Zahlen sind besorgniserregend. Im Jahr 2021 erfassten die Sicherheitsbehörden in Deutschland 3028 antisemitische Straftaten. Das ist die höchste Zahl seit Beginn der Erfassung in der polizeilichen Kriminalstatistik. Das American Jewish Comittee (AJC) hat nun die Haltungen der Bevölkerung in einer repräsentativen Studie des Instituts für Demographie Allensbach ermitteln lassen. Die Umfrage belege, dass Antisemitismus nicht allein ein Problem der politischen Ränder, sondern "tief verankert" in der Mitte der Gesellschaft sei. Klar ist: Unter Rechtsextremen und unter religiös praktizierenden Muslimen ist Antisemitismus ein größeres Problem.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, spricht von "lange erwarteten repräsentativen Zahlen" und mahnt die Gesellschaft, sich dem Judenhass entgegenzustellen. Dieser werde heute wieder als gefährliche "Waffe eingesetzt". Er nennt alltägliche Vorfälle bei Demonstrationen in Deutschland, aber auch Vorkommnisse in Schulen und die jüngsten klar antisemitischen Äußerungen des russischen Außenministers Sergei Lawrow.

Problemgruppen

Laut Studie sehen 60 Prozent der Bevölkerung Antisemitismus in Deutschland "eher" beziehungsweise "auf jeden Fall" weit verbreitet. Knapp zwei Drittel der deutschen Bevölkerung sind zudem davon überzeugt, dass das Problem des Antisemitismus in den vergangenen zehn Jahren zugenommen habe.

Infografik Umfrage: Ursachen für Antisemitismus DE

Als wichtigste Ursachen werden rechtsextreme Ansichten (43 Prozent), Ablehnung des oder Hass auf den Staat Israel (21 Prozent) oder islamistische Ansichten (17 Prozent) genannt. Die Meinungsforscher von Allensbach schauten dabei in besonderer Weise auf die in Deutschland lebenden Muslime. Von ihnen halten demnach 53 Prozent Antisemitismus in Deutschland für ein weit verbreitetes Phänomen; rund jeder Zweite ist der Auffassung, das Problem des Antisemitismus habe seit 2012 zugenommen. Deutlich höher als bei der Gesamtbevölkerung sehen Muslime den Hass auf Israel als Hauptursache für Judenfeindlichkeit (31 Prozent gegenüber 21 Prozent).

Allensbach hat nach Vorurteilen gegen Juden auch im Zusammenhang mit der parteipolitischen Bindung gefragt. Dabei unterscheiden sich AfD-Anhänger deutlich von den Befürwortern anderer Parteien und dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. So stimmen der Aussage "Juden haben zu viel Macht in der Politik" 34 Prozent der AfD-Anhänger zu (Gesamt: 18%). Der Aussage "Juden sind reicher als der Durchschnitt der Deutschen" stimmen im AfD-Lager 46 Prozent zu (gesamt: 27%). Und 22 Prozent der AfD-Anhänger stimmen der Aussage zu, Juden seien für viele Wirtschaftskrisen verantwortlich.

Dr. Remko Leemhuis
Remko Leemhuis, Direktor des AJC BerlinBild: Reiner Zensen/Imago Images

Die AfD steht angesichts dieser Zahlen parteipolitisch im Mittelpunkt der Kritik und der Besorgnis. Aber die Kritik von Remko Leemhuis, dem Direktor des AJC Berlin, gilt doch auch allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Bei ihnen zeige sich "eine gewisse Vorsicht" beim Thema Antisemitismus. "Aber damit überlassen demokratische Parteien politische Räume der AfD", kritisiert er. Als Beispiel nennt er die Frage eines Hisbollah-Verbots. Das AJC habe dieses Thema seit Jahren angesprochen, aber die AfD habe es dann aufgegriffen. Seine Mahnung: "Auch die demokratischen Parteien müssen sich dieses Themas annehmen und darüber sprechen."

Das Holocaust-Gedenken

Infografik Umfrage: Das Gedenken an  Holocaust-Opfer ist

Von dem weitgehenden Konsens der Gesellschaft und der Parteien über das Gedenken an den Holocaust weicht die AfD ab. 48 Prozent der Bevölkerung (Grüne 66%, Union 61%, Linke 57%, SPD 52%, FDP 44%) nennen das Gedenken "unbedingt notwendig" - die AfD-Anhängerschaft dümpelt da bei 24 Prozent. Leemhuis betonte, bei der AfD seien Parteifunktionäre "wesentlicher Teil des Problems, nicht nur die Wählerinnen und Wähler". Sie "benutzen", so der AJC-Vertreter, das Thema Antisemitismus politisch lediglich für ihre antisemitische Propaganda.

Synagoge in Gelsenkirchen
Im Mai 2021 gab es unter anderem vor der Synagoge in Gelsenkirchen eine antisemitisch geprägte Demonstration. Bild: RHR-FOTO/picture alliance

Das AJC wurde nach eigener Darstellung durch die massiven Proteste und Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Gotteshäuser im Mai 2021, während einer neuen Runde der Gewalt im Nahostkonflikt, veranlasst, die Haltungen der Muslime in Deutschland besonders in den Blick zu nehmen. Dabei wurde nicht unterschieden, ob die Befragten die deutsche, eine andere oder eine doppelte Staatsbürgerschaft hatten.

Laut Studie zeigt sich in der muslimischen Bevölkerung ein "enger Zusammenhang" zwischen Religiosität und antisemitischen Vorurteilen. In dieser Gruppe seien Ressentiments deutlich stärker ausgeprägt. So liegen die Werte bei allen Fragen zum Thema unter häufigen Gottesdienstbesuchern deutlich höher als unter Muslimen, die nie in eine Moschee gehen. Die Aussage, Juden hätten zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen, teilten 68 Prozent der Moscheebesucher, 39 Prozent der nicht praktizierenden Muslime. Antisemitismus sei, so Leemhuis, in der gesamten Gesellschaft ein Problem. Da Musliminnen und Muslime ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft seien, "müssen wir daher auch über diesen Antisemitismus reden".

"Radikale Moscheen"

Leemhuis verweist dabei auf die Zahl von Moscheegemeinden in Deutschland, die aus dem Ausland gesteuert würden oder als radikal einzustufen seien. Ausdrücklich nennt er rund 800 Moscheen, die der "Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion" (Ditib) angehörten und vom Islamverständnis Erdogans geprägt seien, sowie 217 Moscheen der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" und 150 Moscheen des IGS, des Dachverbands Schiitischer Gemeinden. Leemhuis betont, das AJC lehne bei der Frage des Kampfes gegen Antisemitismus eine Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem Zentralrat der Muslime ab. Dort sei beispielsweise mit dem Verband ATIB "eine Vorfeldorganisation der extremistischen grauen Wölfe" Mitglied.

Jüdisches Leben in Europa
Eine jüdische Kippa in der Öffentlichkeit.Bild: Geisler-Fotopress/picture-alliance

Die Europa-Direktorin des AJC, Simone Rodan-Benzaquen, spricht von einer "bemerkenswerten Konvergenz" zwischen Deutschland und Frankreich. Seit vielen Jahren sei Frankreich "in gewisser Weise so etwas wie der Ground Zero des Antisemitismus in Europa". Nun sei in ihren Augen die Situation in Deutschland "besonders besorgniserregend". Man müsse in Deutschland heute gegen extremistische Moscheen vorgehen, wenn man nicht in einigen Jahren eine islamistische Gewalt wie in Frankreich erleben wolle.

"Genügend unproblematische Moscheegemeinden"

Der Antisemitismusbeauftragte Klein wirbt dafür, eine spezifisch deutsche Form des Islam zu etablieren. Der Staat könne dafür Form und Rahmen schaffen. "Wir haben genügend Moscheegemeinden, die völlig unproblematisch sind. Sie sollten wir stärker in den Blick nehmen", betont er.

Und Klein wendet sich entschieden dagegen, den Judenhass unterschiedlicher Gruppen oder Beweggründe zu "hierarchisieren". Es gehe, so Klein, stets um die "Ablehnung von jeder Form des Antisemitismus".