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PolitikTaiwan

In Taiwan schlägt die MeToo-Bewegung hohe Wellen

William Yang
15. Juni 2023

Mehr als ein Dutzend prominente Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft in Taiwan wurden in den letzten Wochen der sexuellen Belästigung beschuldigt. Eine Netflix-Serie scheint Opfer ermutigt zu haben.

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Taiwan Präsidentin Tsai Ing-wen
Taiwan Präsidentin Tsai Ing-wen Bild: CARLOS GARCIA RAWLINS/REUTERS

Die #MeToo-Bewegung nimmt in Taiwan Fahrt auf. In den vergangenen Wochen sind in ganz Taiwan mehr als ein Dutzend Fälle von sexueller Belästigung ans Licht gekommen, an denen namhafte Politiker, Wissenschaftler, Kulturschaffende und chinesische Dissidenten im Exil beteiligt waren.

In einer der jüngsten Anschuldigungen postete eine junge Frau letzte Woche auf Facebook, dass sie von Bartosz Rys, dem ehemaligen stellvertretenden Vertreter der polnischen De-facto-Botschaft in Taiwan, sexuell belästigt worden sei. Die Frau, Yu-Fen Lai, gab an, dass der vermeintliche Vorfall im September 2022 stattgefunden habe. Sie hatte dann im November 2022 Anzeige erstattet. Die taiwanesische Staatsanwaltschaft leitete eine Untersuchung ein, beschloss aber am Ende, keine Anklage gegen Rys zu erheben. Nun habe Yu-Fen Lai sich entschieden, öffentlich über die Vorwürfe zu sprechen.

Als Reaktion auf Lais Facebook-Post wies Bartosz Rys, der Taiwan inzwischen verlassen hat, die Anschuldigungen auf Twitter zurück. Er betonte, dass er keine diplomatische Immunität genieße und dass die Ermittler festgestellt hätten, dass die Anschuldigungen nicht begründet seien.

Lai besteht darauf, dass sie die Wahrheit sagt und dass ihre Entscheidung, an die Öffentlichkeit zu gehen, von anderen Frauen unterstützt wurde, die seit Beginn der #MeToo-Bewegung in Taiwan über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung berichtet haben.

Ende Mai kam eine Reihe von Fällen sexueller Belästigung innerhalb der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) in Taiwan ans Licht. Mehrere hochrangige Parteiführer waren zum Rücktritt gezwungen. Sowohl der DPP-Vorsitzende Lai Ching-Te als auch die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen entschuldigten sich daraufhin öffentlich. Im Januar finden Präsidentschaftswahlen statt.

Es ist nicht absehbar, welche Auswirkungen die zahlreichen Vorwürfe sexueller Belästigung auf das Abschneiden der DPP bei den Wahlen haben könnten. Präsidentin Tsai hat Reformen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung und zur Schaffung von Mechanismen zur Meldung sexueller Belästigung gefordert. "Wenn die DPP einen verbesserten Mechanismus für den Umgang mit Fällen sexueller Belästigung etabliert, kann sie der Öffentlichkeit zeigen, dass sie diese Probleme ernsthaft angeht. Dadurch könnten die Auswirkungen der Bewegung auf das Abschneiden der DPP bei den Wahlen begrenzt werden", sagte Wei-Ting Yen, Politikwissenschaftlerin am Franklin and Marshall College in den Vereinigten Staaten.

Taiwans Kultur des Schweigens

Obwohl Taiwan als fortschrittliche Demokratie die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert, herrscht in der Kultur laut Experten weiterhin ein konservatives Klima und Chauvinismus ist sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Politik weiter präsent.

Die taiwanische Kultur sei besonders tolerant gegenüber Männern, sagt Yen im Gespräch mit der DW und: "Obwohl sexuelle Belästigung schon immer vorgekommen ist und ältere Frauen mit solchen Fällen vertraut sind, neigen sie möglicherweise dazu, jungen Frauen zu sagen, dass sie sich damit abfinden sollten."

Yen betont, dass es für Opfer in Taiwan schwierig sei, sich zu melden, da sie befürchten, von der Öffentlichkeit "verurteilt" zu werden, wenn sie Einzelheiten preisgeben. "Es erfordert viel Mut, über diese Erfahrungen zu sprechen, aber viele Opfer zögern, darüber zu reden und ziehen es vor zu schweigen, da sie möglicherweise nicht gerecht behandelt werden", beklagt sie gegenüber der DW.

Fan Yun, eine Abgeordnete der DPP und eine führende Persönlichkeit in der taiwanesischen Frauenbewegung, ergänzt in Gespräch mit der DW, dass viele Frauen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht melden würden, entweder aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, oder weil sie dem Meldesystem nicht vertrauen. "Obwohl es in Taiwan ein Gesetz zur Verhinderung sexueller Belästigung und andere Vorschriften gibt, die sich mit ähnlichen Problemen befassen, sind die vorhandenen Mechanismen unzureichend. Dies führt dazu, dass die Opfer ihre Erfahrungen online veröffentlichen".

Die Netflix-Serie scheint Frauen zu ermutigen

Der jüngste Anstieg von Anschuldigungen sexueller Belästigung scheint im Zusammenhang mit der beliebten Netflix-Dramaserie "Wave Makers" stehen. Die Serie behandelt das Leben und die Arbeit von politischen Wahlkampfmitarbeitern und thematisiert dabei auch sexuelle Belästigung in der Politik. Die Serie hat eine landesweite Diskussion über das fortwährende Problem ausgelöst, dass Fälle von sexueller Belästigung oder sexuellen Übergriffen routinemäßig unterdrückt oder nicht korrekt behandelt werden.

Einige Experten sind der Ansicht, dass die Darstellung der sexuellen Belästigung in "Wave Makers" die Erfahrungen vieler taiwanesischer Frauen mit sexueller Belästigung im echten Leben widerspiegelt, was dazu geführt haben könnte, dass sich mehr Frauen ermutigt fühlen, ihre Stimme zu erheben.

Netflix Serie "Wave Makers" thematisiert thematisiert sexuelle Belästigung in der Politik
Netflix Serie "Wave Makers" thematisiert sexuelle Belästigung in der PolitikBild: Netflix

"Es ist einfach so, dass sich zu diesem Zeitpunkt diverse Veränderungen ergeben. Dazu gehören langjährige Frauen- und Gender-Bewegungen, die sich für Gleichberechtigung einsetzen. Außerdem gibt es ein populäres Drama, das das Thema sexuelle Belästigung thematisiert", erklärte Jennifer Lu, die als Asien-Direktorin von Outright International seit langem als Gender- und LGBTQ-Aktivistin in Taiwan tätig ist.

Lu betonte auch die bedeutende Rolle der jüngeren Generation, die die  #MeToo-Bewegung fördert, da sie offener ihre Gedanken und Ideen teilt. "In den letzten Wochen haben viele Frauen geäußert, dass sie ihre Stimme zurückgewinnen möchten, und ich denke, dass die sozialen Medien eine wichtige Rolle gespielt haben, indem sie ihnen eine Plattform boten, um ihre persönlichen Erfahrungen zu teilen", sagte sie gegenüber DW.

Yu-Fen Lai sagt, dass ihre Erfahrungen ihre "Stimme und Fähigkeiten weg genommen" und ihr das Gefühl gegeben hätten, "mein Leben nicht mehr bestimmen zu können". Nachdem sie ihre Geschichte auf Facebook geteilt hatte, erhielt sie jedoch eine Vielzahl privater Nachrichten, die ihr Unterstützung zusprachen. "Zu Beginn fühlte ich mich überwältigt, doch dann wurde mir klar, dass die von mir geteilten Nachrichten möglicherweise andere Menschen erreichen und ihnen ein besseres Gefühl vermitteln konnten", erklärte sie gegenüber der DW.

Wie reagiert Taiwan?

Um den Umgang mit sexueller Belästigungsfällen zu verbessern, hat eine parteiübergreifende Gruppe von Abgeordneten am Montag eine Anhörung organisiert und die Regierung aufgefordert, die bestehenden Gesetze umgehend zu ändern und die Lücken im Meldesystem zu schließen.

Die Frauenrechtlerin Lu betonte die Bedeutung eines sicheren Raums für Opfer sexueller Belästigung, in dem sie Übergriffe melden können, ohne ihre Arbeitsplätze zu gefährden. "Viele Frauen zögern, sexuelle Belästigung anzuzeigen, wenn es keinen ausreichenden Schutz gibt, da sie befürchten, dass dadurch ihre berufliche Entwicklung beeinträchtigt wird, wenn sie Details preisgeben", erklärte sie.

Lai betonte, dass Opfer von sexueller Belästigung oder Übergriffen einen langen Genesungsprozess durchlaufen und verstehen sollten, dass sie nicht überstürzt handeln müssen. "Es ist ein schwieriger Prozess, und es ist in Ordnung, wenn Personen, die noch nicht bereit sind, über ihre Erfahrungen zu sprechen, das nicht tun. Niemand sollte sich gezwungen fühlen", sagte sie. "Niemand sollte gedrängt werden."