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PolitikNahost

Krieg in Nahost: Die Leidtragenden sind die Kinder

Tania Krämer | Felix Tamsut
20. November 2023

Die Terrorangriffe vom 7. Oktober haben Folgen für die Kinder auf beiden Seiten. Die Hamas schreckte nicht davor zurück, Kinder zu töten und als Geiseln zu nehmen. Auch in Gaza sind viele Kinder unter den Todesopfern.

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Kinder halten an einer eine Essensausgabe bei Rafah im südlichen Gazastreifen ihre mitgebrachten Gefäße hoch
Kinder drängeln sich um eine Essensausgabe bei Rafah im südlichen GazastreifenBild: AP Photo/Hatem Ali/picture alliance

Als die militant-islamistische Hamas am 7. Oktober israelische Ortschaften in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen überfiel und Menschen niederschoss, machte sie keine Ausnahmen. Auch Kinder und Jugendliche wurden ermordet und entführt.

Ein Terrorist, der nach dem Angriff gefangen genommen wurde, beschrieb bei seiner Vernehmung durch die israelischen Behörden die entsetzlichen Ereignisse in einem der Häuser: "Aus einem der Schutzräume hörten wir das Weinen von Kindern. Also schossen wir solange in den Raum, bis alles still war."

Israelischen Medienberichten zufolge hält die Hamas, die von den USA, der EU und anderen Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft wird, 38 Kinder und Jugendliche als Geiseln. Bei der jüngsten Geisel handelt es sich um ein neun Monate altes Baby. Das israelische Ministerium für Wohlfahrt und Soziale Dienste zählt 21 Kinder, die durch den Angriff zu Waisen gemacht wurden. Sechzehn davon verloren beide Eltern, zwei waren Kinder alleinerziehender Mütter, die umgebracht wurden, und drei verloren einen Elternteil, während der zweite entführt wurde oder weiterhin als vermisst gilt.

Die Kinder zahlen den höchsten Preis

Die Kinder im Süden Israels leiden auf vielfältige Weise unter der Situation. Sapir Fischer-Turgeman ist zweifache Mutter und lebt in der Stadt Aschkelon. Sie erzählt, wie sich das Verhalten ihrer Kinder seit Beginn des Krieges verändert habe: "Wir merken, dass eines unserer Kinder viel aggressiver und ungeduldiger geworden ist." Und das, obwohl sich das Paar große Mühe gibt, ihren Nachwuchs so weit wie möglich vor dem Nachrichtenstrom über die aktuellen Kämpfe zu schützen.

Ein Berg an Teddybären mit verbundenen Augen als Erinnerung an entführte Babys und Kinder in Tel Aviv, eine Frau läuft daran vorbei
Tel Aviv: Teddybären als Erinnerung an entführte Babys und KinderBild: Dan Kitwood/Getty Images

Andere Eltern in Israel berichten, ihre Kinder wollten aus Angst nicht mehr in ihren Betten schlafen. Eine Achtjährige, die das Massaker überlebte, schläft nur noch unter ihrem Bett. "Es ist schwer für sie, die ganze Zeit zuhause zu bleiben. Aber wir haben keine Wahl, denn es gibt kaum Orte in den Straßen und auf den Spielplätzen in Aschkelon, an denen wir vor den Raketen sicher sind", klagt Fischer-Turgeman, die wie die meisten Israelis einst selbst beim Militär diente.

Die Geschichte der zwölfjährigen Liel Hetsroni wird vielen Israelis noch lange im Gedächtnis bleiben. Obwohl ihr Tod noch nicht offiziell bestätigt war, entschloss sich ihre Familie, eine Abschiedszeremonie für sie abzuhalten und bestattete anstelle des Leichnams einige persönliche Gegenstände, einige Kleidungsstücke und ihr Lieblingsspielzeug. "An dem Ort, an dem sie war, überlebte niemand. Wir sind keine religiöse Familie, uns ist eine offizielle Bestätigung nicht so wichtig", erklärte ein Familienmitglied israelischen Medien. 40 Tage nach dem Angriff konnte das Mädchen noch immer nicht identifiziert werden.

Familien und Freunde von Hamas-Geiseln demonstrieren am 15.11. in Tel Aviv, halten Schilder hoch mit Aufschrift "Bring them home"
Familien und Freunde von Hamas-Geiseln demonstrieren am 15.11. in Tel AvivBild: AHMAD GHARABLI/AFP via Getty Images

"Die Hölle auf Erden"

Erst vor wenigen Tagen haben Hind Wishah, ihr Ehemann und ihre drei Kinder im Alter zwischen vier und elf Jahren den nördlichen Teil des Gazastreifens verlassen. Das Gebiet ist heftigen israelischen Luftangriffen und schweren Kämpfen zwischen israelischen Bodentruppen und militanten Palästinensern ausgesetzt. Hinds Tochter Salma ist elf Jahre alt, die beiden Jungen, Mohammed und Madschid, sind neun und vier.

"Unser Leben ist zur Hölle auf Erden geworden, in jeder Hinsicht. Meine Kinder schrien ununterbrochen. Ich weinte mit ihnen und manchmal schrie ich auch", berichtet sie über eine wacklige Telefonverbindung aus Rafah an der Grenze zu Ägypten im Süden des Gazastreifens, wo die Familie Zuflucht sucht. "Wir lebten in ständiger Todesangst." Während der letzten Woche, die sie in ihrer Wohnung in Gaza-Stadt verbrachten, hätten sie das wenige Wasser und die wenigen Lebensmittel, die ihnen blieben, rationieren müssen.

Ihre Kinder seien das Wertvollste, was sie habe, betont Wishah. "Salma fragte oft 'Was geschieht mit meinen Sachen, wenn ich sterbe? Kommen sie mit mir in den Himmel?'" Ihren Kindern keine Sicherheit und keinen Schutz geben zu können, sei die schmerzvollste Erfahrung, die Eltern machen könnten, meint sie.

"Sie mussten einen Monat des Schreckens und der Angst durchleben. Das wird ihnen immer in Erinnerung bleiben. Ich bin Gott dankbar, dass wir noch am Leben und meine Kinder in Sicherheit sind, aber wir sehnen uns nach jemandem, der uns aus dieser schrecklichen Hölle rettet und uns zu einem Ende führt, an dem wir zu unserem zerstörten Zuhause zurückkehren."

"Gaza wird zu einem Friedhof für Kinder"

Hind Wishah ist mit ihren Erfahrungen nicht allein. Zehntausende palästinensische Eltern in Gaza sind in der gleichen Lage. Mehr als 4600 Kinder wurden Berichten des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums zufolge in Gaza getötet, 9000 weitere verletzt. Diese Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Die Bevölkerung in Gaza ist jung. Fast die Hälfte (47,3 Prozent) der 2,2 Millionen Bewohner ist laut der palästinensischen Statistikbehörde jünger als 18 Jahre. UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UN), geht davon aus, dass bislang etwa 1,5 Millionen Menschen durch den Krieg aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, darunter mindestens 700.000 Kinder.

Palästinensische Kinder stehen in Rafah für sauberes Trinkwasser an
Palästinensische Kinder müssen in Rafah für sauberes Trinkwasser anstehenBild: Abed Rahim Khatib/Anadolu/picture alliance

Für die jungen Menschen in Gaza sind Elend und militärische Auseinandersetzungen nichts Neues. Seit 2007, als die Hamas die Macht von der Palästinensischen Autonomiebehörde übernahm, unterliegt der Gazastreifen einer strikten Land- und Seeblockade durch Israel und teilweise auch durch Ägypten. Israel kontrolliert streng jede Bewegung von Menschen und Waren in das Gebiet und aus dem Gebiet heraus. Der Gazastreifen ist somit gewissermaßen vom Rest der Welt abgeschnitten. Und für viele Minderjährige ist es schon der fünfte Krieg, den sie erleben müssen. Doch so schlimm wie diesmal war es noch nie.

Schwere Kinderrechtsverletzungen

"Gaza wird zu einem Friedhof für Kinder. Jeden Tag werden Berichten zufolge hunderte Mädchen und Jungen getötet oder verletzt", sagte UN-Generalsekretär António Guterres in der vergangenen Woche.

Nach einem Besuch des Gazastreifens am 15. November warnte UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russel: "Die Konfliktparteien begehen schwere Kinderrechtsverletzungen im Sinne des Völkerrechts - dazu zählen Tötungen, Verstümmelungen und Entführungen, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser und die Behinderung des Zugangs für humanitäre Hilfe. All dies verurteilt UNICEF."

Viele Kinder würden vermisst, fügte sie hinzu, und es sei davon auszugehen, dass sie unter den Trümmern eingestürzter Gebäude verschüttet seien - "die tragische Konsequenz des Einsatzes von Sprengstoff in Wohngebieten". "Gleichzeitig sind in einem Krankenhaus im Gazastreifen Neugeborene verstorben, weil der Strom ausgegangen ist und die medizinische Versorgung unterbrochen wurde."

Ein Hilfsgütertransport am Grenzübergang Rafah, aufgenommen am 2. November
Viel zu selten erreichen Hilfsgüter den GazastreifenBild: Abed Rahim Khatib/Anadolu/picture alliance

Sechs Wochen nach Beginn des Krieges sind die Menschen auf sich allein gestellt, denn Hilfe kommt nur wenig im Gazastreifen an. Nach dem Terrorangriff hat Israel seine Grenzen geschlossen. Rafah, den Grenzübergang nach Ägypten, passieren nur wenige LKW mit internationalen Hilfsgütern. Die allermeisten Palästinenser sitzen in dem winzigen Landstrich fest.

Verlorene Kindheit

Es ist für Rania Mushtasha und ihre Familie schon schlimm genug, Tag für Tag nach Nahrungsmitteln suchen zu müssen, nach sauberem Wasser und einer funktionierenden Toilette. Darüber hinaus sorgt sie sich aber auch angesichts der immensen Folgen, die dieser Krieg für ihre Kinder hat. "Die Kinder können nicht zur Schule gehen, Freunde treffen oder wenigstens über das Internet Kontakt halten, denn eine Verbindung gibt es nicht. Die Kinder trifft der Krieg am härtesten, sie verlieren ihre Kindheit und all die vertrauten Dinge ihres Lebens. Sie leben in ständiger Angst, inmitten furchteinflößender Ereignisse", klagt die 46-jährige Mutter am Telefon der DW. Ihre Kinder könnten nur schlafen, wenn ihre Eltern in der Nähe seien.

Das Flüchtlingscamp Al-Shati in Gaza-Stadt nach einem israelischen Angriff am 6. November
Das Flüchtlingscamp Al-Shati in Gaza-Stadt nach einem israelischen Angriff am 6. NovemberBild: Bashar Taleb/APA Images via ZUMA Press/picture alliance

Die siebenköpfige Familie lebte im Bezirk Shujaiya im Osten von Gaza-Stadt und musste ihre Wohnung schon zu Beginn des Krieges verlassen. Seitdem sind sie zweimal umgezogen und sind nun bei Verwandten in Deir al-Balah im Süden des Gazastreifens untergekommen.

"Wenn wir Nachrichten im Radio hören, fragt mich besonders meine Tochter Rana 'Passiert mit uns das gleiche? Ich möchte nicht sterben.' Es ist schwer, sie zu beruhigen, wenn sie die Angst in meinen Augen sieht und sieht, wie ich wegen der Bomben, der Angst und der sich verschlimmernden Situation weine", erzählt Mushtasha. "Mein kleines Kind fragt mich oft, warum dieser Krieg anders ist und wann er endet", fügt sie hinzu. "Ich habe keine Antwort, aber ich hoffe, es ist bald vorbei."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin