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Kunst für die Wegwerfgesellschaft

23. Juni 2023

Plastik trat nicht nur in der Konsumwelt einen Siegeszug an, sondern auch in der Kunst. Höhepunkt waren die 1960er-Jahre. Eine Ausstellung in Frankfurt/Main zeigt, wie die Kunstszene den Stoff für sich nutzte.

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Kunstwerk von Peter Cook, Archigram, Instant City, Glamour, 1968-70, verschiedene Materialien, auf festem Karton
Glamour dank Plastik - Modell einer "Instant City" von 1968-1970 von Peter Cook, ArchigramBild: Peter Cook/Archigram 1968

Plastik ist wie ein Chamäleon. Es kann sich verstellen, an seine Umgebung anpassen, sich unsichtbar machen. Ob Turnschuh, Zahnersatz, Computer - Plastik ist unser aller ständiger Begleiter. Das gilt natürlich auch für die Kunst. Seinen Boom erlebte dieses nahezu unverrottbare Material zwar erst ab den 1960er-Jahren, wie die Schirn Kunsthalle in der Ausstellung "Plastic World" zeigt, doch schon die Avantgarde-Bewegungen ließen sich davon inspirieren. Im Jahre 1916 entstand in Paris eine erste Skulptur aus Kunststoff. Pionier war der russische Bildhauer Naum Gabo, der mit dem "Tête Nr. 2" einen kubistischen Kopf aus Rhodoid, einem Kunststoff aus Celluloseacetat, das auch für die Herstellung von Puppen oder Billardkugeln verwendet wird, herstellte. Doch Plastik ist nicht gleich Plastik. Mit dem Aufkommen des Plexiglases entstanden plötzlich weitere neue Möglichkeiten des Einsatzes, auch für Künstlerinnen und Künstler.

Skulptur "Woman Leaning Against Wall" von John de Andrea
Skulptur "Woman Leaning Against Wall" von John de AndreaBild: Tim Wegner/epd-bild/picture alliance

Transparenz und Reflektionen wurden zum Experimentierfeld. Die Künstler der Gruppe ZERO wie Otto Piene oder Heinz Mack aus Düsseldorf griffen Ende der 1950er-Jahre freudig auf die Möglichkeiten des neue Kunststoffs zurück und experimentierten mit Folien aus Plastik, um ihre Lichtskulpturen zu produzieren. Einer dieser Protagonisten, Heinz Mack, sagte über diese Versuche, ihm sei jedes Material recht gewesen für seine Kunst - aber als auch Designer sich für Plastik interessierten und ihre Möbel in poppigen Farben entwarfen, habe er das Interesse verloren.

Kunstwerk aus Kunststoffbahnen von Otto Piene, das an eine Anemone erinnert
Otto Pienes Anemonen aus PlastikBild: Otto Piene estate/VG Bild-Kunst, Bonn 2023, © Foto: Peter Moore

Ist das Kunst oder Müll?

Plastik - ob hart oder flexibel, transparent, opak, gemustert, glatt, zart oder bunt - es taucht außer in der Ölmalerei in nahezu jeder Kunstrichtung auf, auch in der Pop Art, mit der die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main einsetzt. John de Andrea erschuf eine lebensechte nackte Frauenskulptur aus Kunststoff. Seine "Woman Leaning Against Wall" von 1978 sieht so echt aus, dass man sie ansprechen und darauf hinweisen möchte, dass sie sich doch etwas anziehen möge, denn ein Museum sei kein Ort, sich derart freizügig zu zeigen.

Auch die Grenzen zwischen Kunst und Mode wurden durchlässig. Der Frankfurter Künstler Thomas Bayrle entwarf gemeinsam mit einem Modeatelier Plastikmäntel, die später bei Kaufhof für 25,50 DM (circa 12 Euro) verkauft wurden. Auch Niki de Saint Phalle - bekannt für ihre gigantischen und zum Teil begehbaren "Nanas" erlag dem Sog des Plastik. 1968 entstanden aufblasbare Ballon-Nanas. Als Strandspielzeug konnte man sie sogar mit in die Ferien nehmen.

Kritik am Plastikboom

Erste kritische Töne schlugen die französischen Künstler des Nouveau Réalisme an. Christo & Jeanne-Claude, César und Arman monierten in ihren Assemblagen die Wegwerfgesellschaft. Arman schuf Müll-Objekte namens "Poubelles", in denen er jede Menge Kunststoffmüll in eine Vitrine quetschte. Geradezu visionär klingen Armans Worte von 1973 heute: "Als Zeuge dieser Gesellschaft habe ich mich schon immer intensiv mit dem pseudobiologischen Zyklus von Produktion, Konsum und Vernichtung befasst. Und es beunruhigt mich schon lange, dass eine der offensichtlichsten konkreten Folgen dieses Zyklus darin besteht, unsere Welt mit Ramsch und überzähligen Ausschusswaren zu überschwemmen."

Skulptur aus Zeitungen, Plastik und Schnur
Christo & Jeanne Claude schufen um 1965 mit "Look" eine Skulptur aus Zeitungen, Plastik und Schnur.Bild: Sammlung Karin und Uwe Hollweg, Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen

Die Farbigkeit dieses weggeworfenen Sammelsuriums der "Poubelles" sollte einen Kontrast bilden zu der Plastikbegeisterung der Pop-Art. Zum Beispiel eines Claes Oldenburg. Der US-Amerikaner schuf XXL-Skulpturen, die alltägliche Gegenstände darstellen sollten, und ließ sie oft wie schlappe Hüllen, den Soft Sculptures, ihre Form wieder verlieren. Dafür verwendete er Polyurethan-Hartschaum, ein neues Material, das in den 1960er-Jahren auf den Markt kam und die Kunstwelt begeisterte.

Gino Marotta, Eden Artificiale, 1967-1973, Methacrylat
Plastikinstallation von Gino Marotta, 1967-1973Bild: 2021 Marino Colucci, Courtesy Erica Ravenna Gallery, Rome

Malen mit Plastik

Ganz andere Ziele verfolgte die US-Bildhauerin Lynda Benglis, die die Grenzen zwischen Malerei und Bildhauerei erweiterte, indem sie mit Latex und Pigmenten "malte". Ihre skulpturalen "Pools" haben eine wellenförmige, organische Form, die durch den Fluss und die Bewegung des Kunststoffs fast lebendig wirkt. Benglis hat auch eine Reihe von Werken aus gegossenem Polyurethanschaum und plastifiziertem Papier geschaffen.

Installation "Garmion", 2020, von Berta Fischer
Installation "Garmion", 2020, von Berta FischerBild: Bernd Kammerer/Presse- und Wirtschaftsdienst/picture alliance

Um Transparenz und Leichtigkeit geht es in den Skulpturen der 1973 geborenen Berliner Künstlerin Berta Fischer. Sie kreiiert aus Plastikfolien, Nylonfäden oder Acrylglas flüchtige Installationen, deren bunte, spiegelnde oder transparente Oberflächen edel und billig zugleich wirken.

So zeigt die Ausstellung Plastik-Welt" in der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt, wie ambivalent dieses Material sein kann. Das Spektrum reicht von der Euphorie der Popkultur über den futuristischen Einfluss des Space Age und die Trash-Arbeiten des Nouveau Réalisme bis hin zu ökokritischen Positionen der jüngsten Zeit. Sie zeigt den Reiz des Kunststoffs und seine Abgründe. Plastik ist Fluch und Segen zugleich, es ist unverwüstlich, das gilt scheinbar auch für die Kunst.

Der Artikel wurde am 29.06.23 aktualisiert.

Autorin Sabine Oelze
Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion