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LGBTQ im Fußball: Deutschland Vorzeigeland?

30. November 2022

Katar als Ausrichter der WM 2022 im Fußball steht wegen seines Umgangs mit Homosexuellen heftig in der Kritik. Aber taugt Deutschland als Vorbild?

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Fußball EM - Aufschrift "LGBTQ+RIGHTS"
Deutsche Fans beim Spiel der Fußball-EM zwischen England und Deutschland in Wembley im Juni 2021Bild: Nick Potts/PA Wire/dpa

Wenn Deutschland am Donnerstag (30.11.22) gegen Costa Rica um den Einzug in das WM-Achtelfinale kämpft, wird Sven Kistner etwas tun, was für den eingefleischten Fußball-Fan noch vor Jahren undenkbar schien: der Dauerkarteninhaber des FC Bayern München boykottiert das Spiel, wie auch viele andere Anhänger und Bars in Deutschland. Die Fußball-Weltmeisterschaft in dem Wüstenstaat ist für ihn ein absolutes No-Go, Kistner geht stattdessen lieber zum Eishockey.

"Wir als queere Fußballfans haben die Entscheidung, die WM in Katar auszutragen, von Anfang an für eine Schnapsidee gehalten, die vor allem des Geldes wegen getroffen wurde. Auch und besonders vor dem Hintergrund der massiven Menschenrechtsverletzungen in Katar, sei es gegenüber Arbeitnehmern, gegenüber Frauen, aber natürlich auch gegenüber der queeren Community."

Sven Kistner
"Die LGBTQ-Fanclubs sind in den deutschen Kurven mittlerweile sehr präsent" - Sven KistnerBild: privat

Kistner ist einer derjenigen, der in den letzten 15 Jahren dafür gesorgt hat, dass die LGBTQ-Community in den deutschen Fußballstadien angekommen und längst fester Bestandteil in den Kurven geworden ist. 2006 war er Mitbegründer des ersten schwul-lesbischen Fanclubs des deutschen Rekordmeisters, dem "Queerpass Bayern" - zu einer Zeit, als homophobe Beschimpfungen noch zur Stadionfolklore gehörten.

"Das ist in den letzten 15 Jahren deutlich weniger geworden. Die Kurven sind in der Regel heute recht gut aufgeklärt, homophobe Vorkommnisse sind mittlerweile eher Einzelfälle. Aber es ist natürlich eine Entwicklung und es wäre auch blauäugig zu sagen, man erwartet jetzt von anderen Ländern, dass das von heute auf morgen passiert, das braucht eine gewisse Zeit."

Queere Fanclubs in ganz Europa

Sven Kistner engagiert sich auch für Queere Football Fanclubs (QFF), ein Netzwerk, dass mittlerweile über Deutschland hinaus aktiv ist: auch Bradford City LGBT, Roze Regahs aus Den Haag oder die Wankdorff Junxx von Young Boys Bern haben sich der Organisation angeschlossen. Das Ziel: mehr Toleranz für gesellschaftliche Minderheiten im Fußball, die Förderung weiterer schwul-lesbischer Fanclubs und deren Integration in die Fanszene. Etwas, was bei Fußballspielen auch heute noch herausgefordert wird.

Fußball Fan mit Regenbogenfahnen
Deutscher Fußballfan mit Regenbogenfahnen im Juni 2021 in MünchenBild: Frank Hoermann/Sven Simon/IMAGO

"Wenn ich bei einem Spiel bin und mir etwas auffällt, ist das natürlich immer auch erst mal eine Gefahrenabwägung. Wenn man sagt, okay, das kann ich jetzt wagen und riskieren, dann spreche ich die Menschen direkt an, um sie darauf aufmerksam zu machen, was sie damit auch bei anderen Menschen anrichten können. Ich denke, das ist die beste Möglichkeit, um damit umzugehen, ist aber nicht immer ganz einfach und erfordert auch ein bisschen Mut."

DFB schafft zentrale Anlaufstelle

Ein wenig Courage brauchte auch Christian Rudolph, als der Deutsche Fußball-Bund an den Lesben- und Schwulenverband in Deutschland mit einer Idee herantrat: wie wäre es, ab Januar 2021 eine zentrale Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt einzurichten, mit dem langjährigen Ansprechpartner für Vielfalt beim Berliner Fußball-Verband als Leiter? Der Aktivist und Fußballfan musste nicht lange überlegen, seine Bilanz nach knapp zwei Jahren kann sich durchaus sehen lassen.

LGBTQI in Deutschland

"Letztes Jahr die Europameisterschaft, wo auch die Nationalmannschaft mit der Regenbogenarmbinde aufgelaufen ist und der DFB sich auch stark im Pride-Monat engagiert hat. Das Andere ist unser Meilenstein, die Umsetzung des Spielrechts für Trans- und non-binäre Spieler, das jetzt bundesweit für alle Landesverbände und Regionalverbände gilt. Das war ein sehr wichtiger Schritt, um nicht nur Symbolpolitik zu betreiben. Und drittens die Vorbereitung auf Katar, wo wir im kritischen Dialog mit der Nationalmannschaft und Präsident Bernd Neuendorf standen. Die Offenheit hatten wir so noch nicht erlebt im Umgang mit dem DFB."

"Geistiger Schaden" - Katar und FIFA heftig in der Kritik

Auch für Rudolph ist die Weltmeisterschaft in Katar ein rotes Tuch, spätestens nachdem der katarische WM-Botschafter und frühere Nationalspieler Khalid Salman Homosexualität als "geistigen Schaden" bezeichnet hatte. Und dann noch die FIFA, die das Tagen von Regenbogenfarben erst zum zweiten Vorrundenspieltag erlaubte, und die europäischen Verbände, die gar nicht erst mit der One-Love-Binde auflaufen wollten, machen für ihn das Trauerspiel perfekt.

Christian Rudolph - Leiter der zentralen Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt beim DFB.
"Die FIFA kann kein Feuer legen und dann so tun, als hätte sie den Brand gelöscht" - Christian RudolphBild: Caro Kadatz

Aber ist Deutschland im Umgang mit den LGBTQ-Fans und -Spielern wirklich so fortschrittlich, wie es vorgibt? Rudolph sieht noch viel Luft nach oben. "Ich beobachte schon international, dass die Premier League oder auch in den USA deutlich mehr passiert, wo sich die komplette Liga am Pride-Monat beteiligt. In England hatten wir jetzt auch das Coming-out von Jake Daniels. Das hat schon etwas damit zu tun, dass dort auch die Vereine die queeren Netzwerke stark mit unterstützen. Die Vereine nehmen am Christopher Street Day teil und auch persönliche Botschaften auf."

Daniels in England, Cavallo in Australien - und Deutschland?

Der 17-jährige Daniels vom englischen Zweitligisten FC Blackpool machte im Mai als zweiter aktiver Fußballprofi seine Homosexualität öffentlich, vor ihm hatte der Australier Josh Cavallo von Adelaide United im Oktober 2021 diesen Schritt gewagt. In Deutschland immer noch undenkbar. Für Christian Rudolph sollte sich die Diskussion aber längst nicht nur auf die Spieler fokussieren: "Wir sprechen hier immer über den ersten schwulen deutschen Profifußballer, aber wo sind denn queere Vorstände, Trainer und Trainerinnen, wo die queeren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Geschäftsstellen?"

Fußball LGBTi | Blackpools Jake Daniels
"Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, diesen Schritt ins Ungewisse zu tun" - Jake Daniels vom FC BlackpoolBild: Mark Cosgrove/News Images/IMAGO

Rudolph ist ein glühender Anhänger des Amateurklubs Tennis Borussia Berlin, der bei Auswärtsspielen in Chemnitz oder dem Berliner FC Dynamo schon mal mit "Lila-Weiß-Schwul"-Fangesängen begrüßt wird. In den unteren Ligen, zwischen Bratwurst und Bier, gehören sexistische und homophobe Bemerkungen auch in Deutschland noch zum Alltag. Es gibt noch viel Arbeit hierzulande, begonnen werden müsste damit schon im Jugendbereich.

"In den Nachwuchsleistungszentren finde ich enorm wichtig, dass die jungen Menschen auch gestärkt werden, dass sie zu ihrer Sexualität und zu ihrem Geschlecht stehen können. Aber auch die Multiplikatoren und Multiplikatorinnen müssen geschult werden, denn es hilft wenig, wenn wir die Jugendlichen aufklären und dann Trainer und Trainerinnen nicht ausreichend sensibilisiert sind."

LGBTQ-Community hofft auf EM in 2024 in Deutschland

Immerhin: Laut der Umfrage "Homofeindlichkeit im Fußball" unter 2377 deutschen Fußball-Anhängern unterstützen 60 Prozent die Anliegen der LGBTQ-Community. Nach dem heftig kritisierten Rückpass bei der Weltmeisterschaft in Katar hat nun ausgerechnet Deutschland die große Chance, diese Anliegen wieder nach ganz vorne zu spielen: in zwei Jahren bei der Europameisterschaft. Der Leiter der Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt beim DFB ist zuversichtlich:

"Die EM 2024 ist für uns auch eine große Chance, mit dem Thema LGBTQ+ den gesamten Fußball abzubilden. Ich hoffe, dass auch der Amateurfußball, der einen Großteil des Fußballs mit abbildet, sehr stark mit eingebunden wird. Und dass wir zusammen mit den Sponsoren diese Europameisterschaft zu einem Ereignis machen können, was jetzt eigentlich auch in Katar versprochen wurde: ein Event, wo wirklich alle willkommen sind."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur