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PolitikEuropa

Litauen stürzt letzte sowjetische Denkmäler

2. September 2022

Lenin-Statuen wurden schon kurz nach der Unabhängigkeit 1991 vom Sockel geholt und landeten später in einem Park – zwischen Ziegen und Vögeln. Wegen des Ukraine-Kriegs ist das Thema wieder hochaktuell.

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Ein gigantisches Monument von Wladimir Iljitsch Lenin mit ausgestreckter Hand wird mit Hilfe von Seilen und Kränen von seinem Sockel heruntergeholt
Am 23. August 1991 wurde der Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin in der Hauptstadt Vilnius vom Sockel geholtBild: AFP/dpa/picture alliance

Gestorben ist der Revolutionär und Gründer der Sowjetunion 1924, aber er blieb noch Jahrzehnte allgegenwärtig: In Stein geschlagen und in Eisen gegossen stand Wladimir Iljitsch Lenin auch in Litauen überlebensgroß an den prominentesten Orten größerer und kleiner Städte. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war der Personenkult vorbei - wie überall in einstmals kommunistischen Ländern wurden Lenin-Skulpturen und die anderer Diktatoren vom Sockel geholt.

Nach dem schnellen Abriss vieler Denkmäler Anfang der 1990er-Jahre und der Umbenennung von Straßen und Plätzen sei das Thema dann lange in Vergessenheit geraten, sagt der Direktor des Genocide and Resistance Research Centre in Vilnius, Arūnas Bubnys. Aber spätestens mit dem Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine am 24. Februar 2022 hätten sich die Ressentiments gegenüber der früheren Sowjetunion und der gegenwärtigen russischen Politik wieder verstärkt.  Die Menschen in Litauen haben Angst, ebenfalls von Wladimir Putins Truppen angegriffen zu werden.

Litauens Angst vor russischem Angriff

Erinnerungen an die 1940 beginnende Besatzung Litauens sind wieder sehr präsent. Sie wurde möglich durch den deutsch-sowjetischen Hitler-Stalin-Pakt zwischen den beiden Diktatoren. Letztlich endete die Okkupation erst mit dem Ende der Sowjetunion. Bis 1953 fanden Massendeportationen vor allem nach Sibirien statt.

Zur ambivalenten Geschichte des Landes gehört aber auch, dass sich während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 viele antisemitische Litauer an der Ermordung von rund 200.000 Juden beteiligten. Damit, aber vor allem mit dem Widerstand gegen das Sowjet-Regime beschäftigt sich das von dem Historiker und Archivar Arūnas Bubnys geleitete Genocide and Resistance Research Centre.

Zu diesem wissenschaftlichen Zentrum gehört das Museum der Okkupationen und Freiheitskämpfe. In dem Gebäude mitten in der Hauptstadt Vilnius folterten und mordeten sowjetische Geheimdienste. Als die Nazis das Land im Zweiten Weltkrieg vorübergehend besetzten, nutzten auch sie das Kellergeschoss als oft Tod bringendes Gefängnis.

Ein Mann im weißen Hemd und grauem Anzug mit Brille steht vor einer großen Landkarte an der Wand, auf der die Sowjetunion dunkelrot zu sehen ist, an vielen Stellen sind weiße Punkte gesetzt
Historiker Arūnas Bubnys vor einer Karte der Sowjetunion, auf der mit weißen Punkten Deportationsorte markiert sindBild: Marcel Fürstenau/DW

Schwerpunkt der Ausstellungen ist die insgesamt fast 50 Jahre dauernde Unterdrückung Litauens, als das Land wie alle baltischen Staaten eine Sowjetrepublik war. In dieser Zeit landeten Hunderttausende aus politischen Gründen in Gefängnissen und Arbeitslagern oder sie wurden gleich umgebracht.

Auch auf Friedhöfen werden Skulpturen entfernt

Als sich Litauen 1991 seine Unabhängigkeit erkämpfte, befreite es sich in Windeseile weitgehend von seinem überall sichtbaren propagandistischen Erbe: Lenin-Statuen, Monumente mit Panzern und Soldaten. An weniger zentralen Orten blieben jedoch Denkmäler aus sowjetischen Zeiten stehen. Wegen des Ukraine-Kriegs sei jetzt geplant, verbliebene Symbole wie den roten Stern, Hammer und Sichel zu entfernen, sagt Arūnas Bubnys vom Resistance Research Centre. Auch Skulpturen auf Friedhöfen geht es jetzt an den Kragen.

Sechs zum Teil martialisch anmutende, überlebensgroße Figuren aus hellem Stein stehen auf einem Granitsockel; davor liegen ein Kranz und Blumen
Dieses sowjetische Monument auf dem Antakalnis-Friedhof in Vilnius soll im September abgerissen werden Bild: Marcel Fürstenau/DW

Violeta Davoliūtė findet das fragwürdig. Man müsse schon genau hinschauen, meint die Professorin vom Institut für internationale Beziehungen und Politikwissenschaft an der Universität Vilnius. Sie plädiert für eine gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Symbolen aus der Vergangenheit: "Ist das nur ein Kranz oder sind es andere Symbole, die die militärische Macht der Sowjets gerade nicht symbolisieren?" Dann sollte man sie stehen lassen, meint die Historikerin.

In Merkinė ist der sowjetische Soldat schon verschwunden

Im Städtchen Merkinė, rund 100 Kilometer südöstlich von Vilnius, hat man sich anders entschieden - dort wurde im Mai 2022 ein etwa zwei Meter hoher Soldat vom Sockel geholt. Violeta Davoliūtė hätte ihn lieber an seinem Platz gelassen. Solche Statuen wären gut für Dokumentationszwecke geeignet, argumentiert sie: "Man könnte versuchen, die komplizierte Geschichte auf so eine Art und Weise zu erklären und darzustellen."

Ein von Bäumen umgebenes sowjetischen Denkmal: ein grauer Betonsockel mit rot-brauner Gedenktafel, die Figur wurde entfernt
In Merkinė wurde die Skulptur eines sowjetischen Soldaten im Mai 2022 entfernt, nur der Sockel ist übrig gebliebenBild: Marcel Fürstenau/DW

Auch Gvidas Rutkauskas ist dagegen, alle sowjetischen Spuren in Litauen zu beseitigen. Dabei hätte gerade er allen Grund, genau das zu wollen: Er wurde in Sibirien geboren - seine Eltern waren dorthin verschleppt worden. Trotzdem ist der Vorsitzende der Vereinigung litauischer politischer Gefangener und Deportierter dagegen, alle kommunistischen Relikte zu entsorgen.  

"Es ist ja auch Teil unserer Geschichte"

Das hänge immer vom einzelnen Denkmal ab und davon, wo es stehe, meint Gvidas Rutkauskas. Man müsse nicht alles entfernen, was aus der Vergangenheit stamme: "Es ist ja auch Teil unserer Geschichte." Künftige Generationen sollten wissen, was es alles gegeben habe. Er lässt aber keinen Zweifel daran, wann für ihn eine Grenze überschritten wäre: "Wenn auf einem wichtigen Platz einer Stadt ein sowjetischer Panzer oder Symbole mit dem sowjetischen Stern stehen, dann sollten sie besser entfernt werden."

Ein Mann mit Kurzhaarschnitt, Schnauzbart, Brille im schwarzen T-Shirt. An der Wand hinter ihm hängen gerahmte Fotos, auf dem Boden stehen bunte Öl-Bilder
Gvidas Rutkauskas vor den Fotos ehemaliger politischer Gefangener und nach Sibirien deportierter Litauer Bild: Marcel Fürstenau/DW

Durch die neue Bedrohungslage Litauens seit dem Krieg in der Ukraine hat sich die Debatte jedoch in eine klare Richtung entwickelt: Die meisten sind dafür, auch die letzten Zeugnisse aus kommunistischen Zeiten zu beseitigen. Liucija Vervečkienė vom Zentrum für (post)sowjetische Erinnerungsstudien in Vilnius registrierte den Stimmungswandel in der Bevölkerung allerdings schon viel früher. Eine Zäsur war nach ihrer Einschätzung das Jahr 2014.

Damals annektierte Russland die Krim . Zudem bekämpfen sich seitdem im Osten der Ukraine prorussische Separatisten und reguläre ukrainische Truppen. Dadurch habe sich die Debatte um das Entfernen sowjetischer Relikte im öffentlichen Raum verändert, sagt Liucija Vervečkienė.

Eine Frau mit schulterlangen Haaren, in einem Kleid mit Rosenmuster steht vor einem großen Bildschirm mit dem Schriftzug "Zentrum für (post)sowjetische Erinnerungsstudien"
Liucija Vervečkienė führt in Litauen Zeitzeugen-Interviews über die sowjetische Vergangenheit und die Zeit des UmbruchsBild: Marcel Fürstenau/DW

Auch ein Schriftsteller-Denkmal fiel vom Sockel

Inzwischen gehe es auch um die Frage, wie mit Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur, denen man eine Nähe zur sowjetischen Führung nachsagt, umgegangen werden solle. Als Beispiel nennt die Historikerin den 1947 gestorbenen litauischen Schriftsteller Petras Cvirka, der als Kommunist die Politik der Sowjets unterstützte. Das zu seinen Ehren errichtete Denkmal in Vilnius wurde im November 2021 entfernt.

Die Novellen, Kurzgeschichten und Kinderbücher des umstrittenen Autors wurden ins Englische, Chinesische und in viele osteuropäische Sprachen übersetzt. Liucija Vervečkienė hält seinen Fall für exemplarisch, wenn es um die schwierige Frage gehe, was man unter Kollaboration mit dem früheren Besatzungsregime versteht. Petras Cvirka habe zwar niemandem persönlich geschadet, sei aber ein Befürworter des sowjetischen Systems gewesen.

Ein Eingangsschild aus Holz und einer Kunststoffplane, auf der in gelb-goldener Farbe vor rotem Hintergrund "Grutas-Park" steht. Der Buchstabe G ist zu einer Sichel mit Hammer und Stern geformt
Hammer, Sichel und Stern - das schlichte Eingangsschild des Grutas-Parks im typisch sowjetischen DesignBild: Marcel Fürstenau/DW

Wiedersehen mit Marx und Stalin im Grutas-Park 

Sollten eines Tages tatsächlich sämtliche Spuren aus vergangenen kommunistischen Zeiten von Straßen, Plätzen und Friedhöfen verschwunden sein, bleibt Interessierten noch ein Besuch des Grutas-Parks im Süden Litauens. Auf dem weitläufigen Gelände treffen sich seit der Jahrtausendwende Skulpturen wieder, die an ihren ursprünglichen Orten unerwünscht waren: der Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der Diktator und Massenmörder Josef Stalin, der Geheimdienst-Chef Feliks Dzierżyński, der deutsche Philosoph Karl Marx und viele andere mehr. 

Aktuell stehen 87 Monumente zwischen Tannen, Kiefern und Birken. Auch Stacheldrahtverhaue sind zu sehen und Wachttürme, wie sie in sibirischen Straflagern üblich waren. Für die großen Besucher des Parks gibt es Fototafeln mit Informationen über die Herkunft der Skulpturen und wann sie entfernt wurden, für die kleinen Gäste einen Kinderspielplatz. Auf benachbarten Wiesen grasen Ziegen und stolzieren Straußenvögel.

Ein Mix aus Disneyland und Gruselkabinett?

"Bei Lenin im Birkenwald" titelte die "Neue Zürcher Zeitung" in einem Artikel aus dem Jahr 2000, in dem von einer "seriös konzipierten Exposition" die Rede ist. Kritiker des privat betriebenen Freilichtmuseums der besonderen Art halten das Ganze eher für einen Mix aus Disneyland und Gruselkabinett. Positiv äußert sich hingegen Historikerin Violeta Davoliūtė von der Universität Vilnius. Bei ihrem ersten Besuch im Grutas-Park habe sie sich die Skulpturen zusammen mit Kollegen in einer "humorvollen Stimmung" angesehen.

Dass die Denkmäler nicht zerstört wurden, sondern unter freiem Himmel ausgestellt sind, findet Violeta Davoliūtė gut. Den Disneyland-Charakter der Anlage sieht sie jedoch durchaus und kann die Kritik daran verstehen: "Konzeptionell ist das alles ein wenig primitiv, aber damals war es wohl das Beste, was man machen konnte."

Violeta Davoliūtė - lockiges, blondes Haar, weiße Bluse - stützt sich mit einer Hand auf dem Sockel eines steinernen Lenin-Kopfes ab
Die Historikerin Violeta Davoliūtė neben einem Lenin-Kopf am Eingang des Grutas-Parks: "Man kann auch darüber lachen"Bild: Marcel Fürstenau/DW

Lachen über Lenin

Die Wissenschaftlerin räumt ein, dass diese Art der Präsentation vor allem auf ausländische Besucher verharmlosend wirken kann. Für die Menschen in Litauen hingegen ermöglichten die im Grutas-Park versammelten sowjetischen Monumente einen leichteren Blick auf ihre Vergangenheit, meint Violeta Davoliūtė: "Man kann auch darüber lachen."

Dieser Text ist im Rahmen einer Studienfahrt der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur entstanden. Die aus Steuergeldern finanzierte Stiftung widmet sich seit 1998 der Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und anderen Ländern mit Diktatur-Vergangenheit.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland