1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Teil-Lockdown: Kulturszene fürchtet um Existenz

Nadine Wojcik
29. Oktober 2020

Erneut schließen Kinos und Theater - trotz strenger Hygiene-Auflagen. Fassungslos und wütend äußern sich Künstler im Netz. Sie fordern sofortige Hilfen.

https://p.dw.com/p/3ka4g
Im Vordergrund ist ein Sarg zu sehen, auf dem Veranstaltungsbranche steht, im Hintergrund der Reichstag (Foto: Emmanuele Contini/NurPhoto/picture alliance ).
Kultur zu Grabe getragen: Protestaktion des Bündnis "Alarmstufe Rot"Bild: Emmanuele Contini/NurPhoto/picture alliance

Rote Pullis, rote Mützen, rote Fahnen: Die Alarmstufe Rot ist im Kultur- und Veranstaltungsbereich bereits seit vielen Monaten ausgebrochen. Viele der teilnehmenden Demonstrierenden, die am Mittwoch, dem 28. Oktober, mit Musik und Lautsprechern durch Berlins Zentrum zogen, sitzen seit März auf dem Trockenen. Die Konzert- und Veranstaltungsbranche steht nahezu still.

"Wenn man ins Koma gelegt wird, muss man uns den Sauerstoff geben. Alles andere ist unseriös", sagte Dirk Wöhler, Mitinitiator des Bündnisses "Alarmstufe Rot", das von namhaften Musikern wie Herbert Grönemeyer oder Campino unterstützt wird. "Wir wollen Lösungen", forderte Dirk Wöhler, Chef einer Eventagentur. Dass statt einer Lösung ein erneuter Lockdown anstehen würde, das wagte wohl keiner der rund 6.000 Demonstrierenden zu denken. Doch genau diese Nachricht verkündete die Bundesregierung am frühen Abend genau dieses Tages: Im November wird das öffentliche Leben erneut zum Stillstand kommen, zunächst für vier Wochen. Doch gilt dieser Lockdown nicht für alle Lebensbereiche, betroffen sind Gastronomie, Freizeit, Sport und Kultur.

Künstler sind fassungslos

"In den letzten Monaten gaben Sie uns das Gefühl, weniger wert zu sein als Autos, Flugzeuge und Fußballspieler. Dabei gehören wir in der derzeitigen Pandemie zu den Wirtschaftszweigen, die ohnehin schon finanziell wesentlich schlechter gestellt sind als andere", heißt es in einem Offenen Brief von zahlreichen Musik- und Comedystars wie Peter Maffay, Bela B oder Carolin Kebekus. Die Unterzeichner weisen auf existenzielle Nöte hin, "dass manche Unternehmer und Selbstständige sich bereits aus purer Verzweiflung das Leben genommen haben - es wird endlich Zeit für Sie, zu handeln!"

"So was wie heute habe ich noch nie gemacht", sagt Till Brönner, weltweit erfolgreicher Jazzmusiker und Fotograf, der sich erstmals wortgewaltig auf Facebook den Frust von der Seele redete. "Das muss wohl daran liegen, dass ich ziemlich sauer bin", heißt es weiter in einem sechsminütigen Video, das in den sozialen Medien bereits zwei Millionen Mal abgerufen wurde (Stand: 29.10.2020).

"Wir alle wollen uns vor diesem verdammten Virus schützen, aber wenn ein gesamter Berufszweig per Gesetz gezwungen wird, seine Arbeit zum Schutze der Allgemeinheit ruhen zu lassen, dann muss doch die Allgemeinheit dafür sorgen, dass die Menschen nach Corona noch da sind", so der Musiker. "Das ist kein Luxusproblem, das ist ein Kernproblem." Man könne nicht Konzernen Milliarden "in den Vorgarten werfen" und Künstler auf einen Sozialhilfe-Antrag verweisen. 

Till Brönner Interview

Auch Brönner betonte, dass es sich hier nicht um "Selbstverwirklicher" handle, sondern um mehr als 1,5 Millionen Beschäftigte. Es gehe natürlich nicht um die Topverdiener, sondern um die vielen Veranstaltungstechniker, Bühnenbauer, Tourfotografen oder Ticketverkäufer.

"Kulturgesicht" heißt daher eine weitere Aktion, die mit schwarz-weißen Porträtfotos all jene vorstellt, die seit acht Monaten um ihre Existenz fürchten. Unter dem Hashtag "Ohne uns wird's still" (#ohneunswirdsstill) beziehen derzeit auch viele Künstler Stellung in den sozialen Medien und integrieren den Schriftzug auf ihrem Profilbild.

Vollbesetzte Flugzeuge heben ab, Kinos schließen

Besonders unverständlich für viele: Gerade Konzerthäuser, Kinos und Theater hatten gewissenhaft und mit hohen Mehrkosten die strengen Hygiene-Maßnahmen umgesetzt. In kaum einem anderen Gesellschaftsbereich werden die Abstandsregeln so genau und konsequent umgesetzt, auch wenn es eben bedeutet, dass eine Vorstellung dann aufgrund von stark reduziertem Ticketkontingent und nur 20-prozentiger Auslastung schon als ausverkauft gilt - während eine vollbesetzte Maschine der Lufthansa abheben darf. 

"Ich hatte gehofft, die Politiker hätten aus den vergangenen Monaten gelernt, wo Ansteckungen passieren", sagte Christoph Terhechte, Leiter des derzeit laufendem Filmfestivals DOK Leipzig, der Deutschen Presse-Agentur. "Kinos sind unter den gegebenen Hygieneregeln keine Infektionsherde." Man sitze weit voneinander entfernt, rede nicht miteinander und interagiere auch sonst in keiner Form. "Kinos als gefährlichen Ort hinzustellen, ist Unsinn." Christine Berg, Vorstand vom Hauptverband der Filmtheater, verwies auf die finanziellen Folgen: "Der erneute vierwöchige Teil-Lockdown wird weitere Häuser die Existenz kosten. Wir werden dieses Kinojahr mit Verlusten von zirka einer Milliarde Euro abschließen. Das ist nicht zu verkraften." Weltweit habe es keinen einzigen bekannten Covid-Fall im Kino geben. "Wir sind fassungslos."

Selbst wenn Museen nach derzeitiger Regelung noch nicht schließen müssen, bereitet sich Eckart Köhne, Direktor des Badischen Landesmuseums, bereits darauf vor. Die damit verbundenen Verluste würden besonders die privaten und vereinsgeführten Häuser hart treffen, so der Präsident des Deutschen Museumsbundes gegenüber der DW."Ich will nicht hoffen, dass wir ein großes Museumssterben erleben. Aber viele der Häuser haben keinerlei finanzielle Polster." 

Verschärfung der existenziellen Not

Während die Bundesregierung den Schritt zum Teil-Lockdown im Falle der ansteigenden Infektionszahlen sicherlich bereits in Vorbereitung hatte, ist es umso bitterer, dass finanzielle Soforthilfen scheinbar in der Schwebe sind. Den Ernst der Lage ist sich Kulturstaatsministerin Monika Grütters zumindest bewusst: "Es geht für die Branche um Leben und Tod. Die Künstler und Kreativen haben sich in der ganzen Krise ungeheuer fair verhalten, obwohl es an ihren Lebensnerv geht", sagte sie gegenüber der BILD-Zeitung. "Wir werden in den nächsten Wochen ganz intensiv auch über dieses Thema reden", sagte Wirtschaftsminister Peter Altmeier in Hinsicht auf die Solo-Selbständigen im Kulturbereich am Mittwoch im ARD-Morgenmagazin.

Den Unternehmen und Gastronomie war nach Verkündung des Teil-Lockdowns bereits 75 Prozent ihres Umsatzes im Jahresvormonat (November 2019) zugesagt worden. Künstler, Musiker und Solo-Kulturselbständige stehen nach derzeitiger Lage für den kommenden Monat noch vor einem kompletten Verdienstausfall - schließlich müssen erneut Theaterstücke oder Konzerte abgesagt werden, obwohl sie mit großen künstlerischen, logistischen und finanziellen Anstrengungen den aktuellen Sicherheitsauflagen entsprochen hätten.

Obenansicht des Publikumsbereiches eines alten Theater. Nur sehr wenige rote Theater-Klappstühle stehen im Raum (Foto: picture-alliance/dpa/B. Pedersen).
Theater sind derzeit sichere Orte: Corona-Bestuhlung im Berliner EnsembleBild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Während öffentliche Häuser weiterhin auf staatliche Fördermittel setzen können, kämpfen vielen Künstler, Solo-Selbständige und private Theater bereits seit März um ihre Existenz. Zwar gab es je nach Bundesland Soforthilfen zwischen rund 2.000 und 9.000 Euro - doch diese sollten nur die Betriebskosten decken. 

Ein Jazzmusiker, ein Lichtdesigner, ein Fotograf oder eine Sängerin hat meist keine. Daher konnte im Frühjahr zusätzlich ein vereinfachter Antrag auf Grundsicherung, das sogenannte Arbeitslosengeld "Hartz 4", gestellt werden. Doch auch hier fielen viele durchs Antragsraster. "Ich habe meine Ersparnisse, die eigentlich für meine Rente gedacht waren, nun aufgebraucht", erzählt ein Musiker, der nicht namentlich genannt werden möchte. "Gleichzeitig bekommt ein Freund von mir, der in der Automobilbranche arbeitet, seit März mehrere tausend Euro Kurzarbeitergeld im Monat. Das fühlt sich nicht gerecht an."

Auch Dirk Wöhler beklagt, er hätte 2019 eine gesunde Eventagentur gehabt, die jetzt verschuldet ist. "Wir kommen uns als Bittsteller vor, die wir gar nicht sind. Ich bleibe gerne zuhause, aber meine Schultern sind zu klein, ich kann diese Last nicht alleine tragen."