1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Deutschland: Mehr Schulabbrecher mit Migrationshintergrund

18. Februar 2024

Im europäischen Vergleich brechen in Deutschland besonders viele junge Menschen die Schule oder die Ausbildung ab. Das kann sich das Land eigentlich nicht leisten.

https://p.dw.com/p/4cTYE
Hamburg | Eine Schülerin mit Kopftuch
Bild: Axel Heimken/dpa/picture alliance

Wer in Deutschland einen Job sucht, der kann schnell fündig werden. Im Herbst 2023 waren mehr als 1,7 Millionen freie Stellen gemeldet. In 200 Berufen gibt es mehr Bedarf als Bewerber. Händeringend gesucht wird beispielsweise in medizinischen und Pflegeberufen, beim Bau und im Handwerk, bei IT-Berufen, Berufskraftfahrern, Lehrern, Erziehern und vielem mehr. 

Rein rechnerisch müsste dieser Mangel nicht sein. Anfang 2024 bezogen rund 4,8 Millionen erwerbsfähige Menschen Arbeitslosengeld oder Bürgergeld, also staatliche Grundsicherung. Mehr als die Hälfte davon haben allerdings keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ihre Chance, eine Beschäftigung zu finden, sei gering, heißt es bei der Bundesagentur für Arbeit. Und noch eine Zahl aus den monatlichen Berichten der Arbeitsagentur ist auffällig: Unter den Langzeitarbeitslosen hat ein Viertel noch nicht einmal einen Schulabschluss. 

Deutschland weit abgeschlagen

Internationale Organisationen wie die OECD kritisieren seit Jahren, dass hierzulande wenig unternommen wird, um die Zahl der Minderqualifizierten zu senken. Das deutsche Bildungssystem hat es zwar geschafft, mehr junge Menschen als früher zum Abitur und zum Hochschulabschluss zu bringen. Doch auf der anderen Seite der Bildungskette gibt es eine konstant hohe Zahl derer, die nicht einmal die Mindestanforderungen erfüllen können.

Die Europäische Statistikbehörde Eurostat erhebt jedes Jahr, wie viele junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren in den europäischen Ländern keinen Schulabschluss machen oder keine Berufsausbildung. Von 2013 bis 2020 waren es in Deutschland jährlich rund zehn Prozent. Seit 2021 ist die Quote sogar noch gestiegen, auf 12,2 Prozent 2022. 

Nur Ungarn, Norwegen, Spanien, Rumänien und Island stehen noch schlechter da als Deutschland. Unter den 27 EU-Ländern hat die Bundesrepublik sogar das viertschlechteste Ergebnis.

Die Hauptschule zählt nicht 

Allerdings ist festzustellen, dass für Eurostat nur mittlere und höhere Schulabschlüsse zählen. In die Statistik der Abbrecher fließen auch junge Menschen ein, die in Deutschland zumindest den niedrigsten möglichen Abschluss auf einer Hauptschule machen. Die endet mit dem 10. Schuljahr, die Absolventen erlangen damit die sogenannte Berufsreife. 

In Deutschland lernen Kinder vier bis sechs Jahre gemeinsam, bevor sie entsprechend ihren Leistungen auf verschiedene weiterführende Schulen verteilt werden. Bildung liegt in der jeweiligen Zuständigkeit der 16 Bundesländer, daher gibt es verschiedene Systeme. 

Ein Beispiel: In Bayern gehen Kinder vier Jahre gemeinsam zur Grundschule. Je nach Leistung werden sie anschließend von den Lehrern für das Gymnasium, die Realschule oder die Hauptschule empfohlen. In Berlin dauert die Grundschule sechs Jahre. Die Eltern entscheiden, ob ihr Kind danach auf das Gymnasium geht oder auf eine Sekundarschule, die drei verschiedene Abschlüsse anbietet.

Seit Jahren viele Schulabbrecher

Schulabbrecher gab und gibt es in allen Bundesländern. 2001 waren es knapp zehn Prozent des Jahrgangs. Danach sank die Quote langsam auf gut fünf Prozent 2013 und stieg dann wieder an. 2022 waren es rund sieben Prozent des Schuljahrgangs - in absoluten Zahlen rund 52.000 junge Menschen.

Auffällig ist, dass inzwischen vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund die Schule abbrechen. Das geht aus einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) hervor. 2013 gab es noch keinen Unterschied hinsichtlich der Herkunft. 2022 aber waren bei den 25-jährigen Deutschen ohne Migrationshintergrund nur drei Prozent der Männer und zwei Prozent der Frauen ohne Schulabschluss. Bei Gleichaltrigen mit ausländischen Wurzeln waren es zwölf Prozent der Männer und zehn Prozent der Frauen. 

Das hat Folgen für den weiteren Werdegang, wie Analysen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) zeigen. Bei den Erwachsenen zwischen 20 und 34 Jahren hatten 2021 gut zehn Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund keine Berufsausbildung. Von denjenigen, die einen Migrationshintergrund haben, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, waren es knapp 20 Prozent. 

Schulerfolg hängt von der Herkunft ab

Bildungsexperten kritisieren seit Jahren, dass das deutsche Schulsystem zu viele Bildungsversager produziert und zu viele Jugendliche auf der Strecke bleiben. Im jüngsten Pisa-Test, bei dem 15-jährige Schüler in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften international verglichen werden, lieferten deutsche Schüler die niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen der Studie gemessen wurden.

Der Leistungsabfall wird zum einen auf den Unterrichtsausfall in der Corona-Pandemie zurückgeführt. Viel wesentlicher ist aber die seit Jahren anhaltende Chancenungleichheit. "In Deutschland ist der Bildungserfolg immer noch von der sozialen Herkunft abhängig", kritisiert Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. 

Zwei Schülerinnen sitzen mit einer Frau an einem Tisch in einer Wohnung. Vor ihnen liegen aufgeschlagene Hefte und Bücher. Ein Mädchen sitzt vor einem Laptop und trägt Kopfhörer.
Wer Eltern hat, die beim Lernen helfen können, ist klar im VorteilBild: Jochen Tack/IMAGO

Besonders betroffen seien diejenigen, die "keine gute Lernumgebung zu Hause" hätten. "Durch Unterrichtsausfall, nicht ausreichend qualifiziertes Personal und fehlende Unterstützungssysteme werden ihre Bildungschancen immer geringer."

Fehlende Deutschkenntnisse

Die Probleme fangen schon im Kindergartenalter an. Inzwischen spricht jedes fünfte Kind zwischen drei und sechs Jahren zu Hause kein Deutsch. In Hessen, Berlin oder Bremen ist es sogar ein Drittel. Umso wichtiger wäre, dass vor allem diese Kinder einen Kindergarten besuchen würden. Laut Bildungsbericht der Bundesregierung tun das aber nur 81 Prozent aller Kinder mit Migrationshintergrund.

Das liegt vor allem daran, dass es zu wenige Kita-Plätze gibt. Bundesweit fehlen aktuell rund 350.000. Können die Kinder bei der Einschulung nicht ausreichend Deutsch, sind sie von Anfang an im Rückstand. Das demotiviert und lässt rasch den Anschluss verlieren. Was sein müsste, ist individuelle Förderung, der Einsatz von Sozialarbeitern und pädagogischen Fachkräften. Doch alles ist Mangelware, genauso wie Lehrer. 

Steigender Fachkräftemangel in der Schule

Aktuell fehlen bundesweit 14.000 zusätzliche Lehrer, Tendenz steigend. "Die Lücke zwischen Lehrkräftebedarf und Lehrkräfteangebot wird bis 2035 auf gut 56.000 Vollzeitstellen anwachsen", rechnet GEW-Vorstand Bensinger-Stolze vor. "Die politisch Verantwortlichen haben die Situation leider zu lange auf die leichte Schulter genommen. Deshalb ist es kurzfristig sehr schwierig, die Situation zu entschärfen beziehungsweise zu verbessern."

Drei Menschen in grüner Arbeitskleidung stehen in einem Park und fegen verwelktes Laub zusammen
Laub fegen im Park: Wer schlecht qualifiziert ist, für den bleiben oft genug nur Hilfs-JobsBild: Socrates Tassos/FUNKE Foto Services/Imago

Für Schüler, die besonders viel Unterstützung bräuchten, sind das schlechte Nachrichten. Denn auch Programme, mit denen die Zahl der Schulabbrecher gesenkt werden soll, sind bedroht. In einigen Bundesländern gibt es beispielsweise das "Produktive Lernen", ein Projekt, mit dem schon nach der achten Klasse Jugendliche aufgefangen werden sollen, die zu scheitern drohen. 

Frühzeitig mit der Arbeitswelt vernetzen

Wer sich mit Gedichtinterpretationen und höherer Mathematik schwertut, kann durchaus praktische Talente und Fähigkeiten haben. An sie richtet sich das Angebot, an drei Tagen in der Woche in Unternehmen als Praktikanten zu arbeiten, um auf diese Weise einen Weg in einen passenden Beruf zu finden. 

Die Chefin der Arbeitsagentur, Andrea Nahles, regte nun an, mit der Berufsorientierung in der Schule bereits in der fünften Klasse zu beginnen. Regelmäßige Berufspraktika in allen Schulformen müssten Pflicht werden. In der Hoffnung, auf diese Weise mehr praktisch veranlagte Talente zu entdecken und zu fördern. Ab dem 1. April 2024 gilt zudem eine gesetzliche Ausbildungsgarantie - auch für Schulabbrecher.