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PolitikEuropa

Smartphone-Berichte aus dem Schützengraben

21. Juni 2023

Kriegsberichterstattung im digitalen Zeitalter: Die Bilderflut ersetzt nicht den Journalismus – ein Ergebnis beim Global Media Forum der DW.

https://p.dw.com/p/4SsrR
Ehemaliger Bonner Plenarsaal: Veranstaltungsort des Global Media Forums der DW
Kriegsberichterstattung im digitalen Zeitalter war eines der Themen beim Global Media Forum der DWBild: Florian Goerner/DW

Videos aus dem Schützengraben: Der tötende Schuss, der Zweikampf gefilmt mit Helmkamera. Wieder ein Schuss, wieder ein Toter – und das Publikum ist zeitnah mit dabei. Auf Twitter und anderen Plattformen können die Kämpfe in der Ukraine am Smartphone mitverfolgt werden, weit weg vom Kampfgeschehen wie noch nie in einem Krieg zuvor. 

Russlands Krieg gegen die Ukraine sei bislang "ohne Zweifel der am umfangreichsten visuell dokumentierte Konflikt in der Geschichte von Bildern und Krieg", sagte der US-Fotojournalist Ron Haviv auf dem Podium des diesjährigen Global Media Forum der Deutschen Welle. Welche Rolle spielt dabei noch der Journalismus?, fragten sich viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Wie ein Kriegsspiel 

Der internationale Branchentreff der DW stand im zweiten Jahr in Folge unter dem Eindruck von Russlands Krieg gegen die Ukraine und den Herausforderungen für die Berichterstattung über diesen Krieg. In der Lobby des Veranstaltungsortes, dem World Conference Center Bonn, zeigten sich Journalistinnen und Journalisten gegenseitig Informationen aus ihren Telegram-Kanälen mit Berichten von der Front im Süden und Osten der Ukraine.

Dazu gehörte auch das Video einer ukrainischen Einheit, wie sie offenbar während der laufenden Gegenoffensive eine Stellung russischer Soldaten aufreibt und einen Gegner nach dem anderen im Schützengraben erschießt, als sei es ein Kriegsspiel der Gamer-Szene. Die Soldaten in dem Video sind entmenschlicht. Wo genau und wann die Szenen entstanden sind, ist zunächst unklar. 

Diese Bilder allein seien eben nicht Journalismus, sagt die ukrainische Journalistin Sevgil Musaieva im Interview mit der DW. Die Chefredakteurin der unabhängigen Online-Zeitung Ukrainska Pravda aus Kiew macht klar: Das bloße Anschauen der Posts aus dem Krieg auf sozialen Netzwerken sei kaum mehr als passive Berieselung.

Ukraine Donetsk  Gegenoffensive: Ukrainischer Soldat im Schützengraben
Ukrainischer Soldat an der Front am 20. Juni in der Region Donetsk in der Ost-Ukraine Bild: Evgeniy Maloletka/AP Photo/picture alliance

Ohne Einordnung gebe es keine Erkenntnis für die Nutzerinnen und Nutzer. "Ziel des Journalismus und unseres Berufes ist es, einen Kontext zu liefern und zu beschreiben, was tatsächlich vor sich geht und wer dafür verantwortlich ist und Beweise zu finden." Im besten Falle: Beweise, die vor der internationalen Gerichtsbarkeit Bestand haben. 

Berichterstatter als Zeugen vor Kriegstribunal

So wie die Arbeiten von US-Fotojournalist Ron Haviv während der Zerfallskriege im früheren Jugoslawien. Der Amerikaner hatte in Bosnien-Herzegowina unter anderem Vertreibungen der meist muslimischen Bosniaken durch die Serben dokumentiert, Aufnahmen, die später auch ihren Weg in die Beweisaufnahme des Internationalen Strafgerichtshofs für das frühere Jugoslawien fanden. 

Die Wahrheit aus der Flut an Textnachrichten, Fotos und Videos herauszufiltern, und somit die juristische Relevanz journalistischer Arbeit zu befördern, sei heute zentraler Bestandteil der Berichterstattung über Krieg und Krisen, sagte Haviv. Es gehe darum, die Videoschnipsel, die Tweets zu prüfen, mit echten Augenzeugenberichten abzugleichen und all diese Informationen "zusammenzusetzen, um ein Gesamtbild des Geschehens zu erhalten", so Haviv auf einem der Podien des Medienforums der DW über die "Kriegsberichterstattung im digitalen Zeitalter". 

"Kiew russisch besetzt" - Falschinformation im Netz

Sevgil Musaieva, die Chefredakteurin der Ukrainska Pravda, erinnerte in dem Zusammenhang an den Beginn von Russlands Invasion in der Ukraine im Frühjahr 2022. Über soziale Netzwerke sei da die Falschinformation gestreut worden, Kiew sei eingenommen worden, teilweise sogar von ukrainischen Quellen – in Panik. Das Beispiel zeige, dass es ohne nachhaltige Quellenprüfung, ohne den Abgleich verschiedener Informationen, ohne den Kontext keine wahrheitsgetreue Berichterstattung geben könne, so Musaieva. 

Das versuche sie auch im Gespräch mit den Presseleuten der ukrainischen Armee deutlich zu machen, ergänzt Musaieva im DW-Interview. Kiews Führung hat unter Präsident Wolodymyr Selenskyj den Zugang zu den Kampfgebieten für Medien stark eingeschränkt. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 herrscht dort Kriegsrecht – und das schränkt auch die Pressefreiheit ein.

Wie verläuft die ukrainische Gegenoffensive?

Mit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive verbreite die ukrainische Armee zudem ein aufwändig produziertes Video, in dem Soldaten in Uniform die Bevölkerung zum Schweigen über ihre Operationen auffordern – mit einer Geste: Sie führen den Zeigefinger zum Mund. Zudem veröffentlichte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kiril Budanow, ein Video, in dem er 20 Sekunden lang schweigt bis zur Einblendung des Video-Titels "Pläne lieben Stillschweigen".

Selbstkritischer Blick auf Veröffentlichungen

In Gesprächen mit dem Militär erkläre sie auch, dass die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf habe zu erfahren, "was wirklich passiert", sagt Musaieva. Auch das sei Grundlage dafür, dass die Unterstützung für die Ukraine durch die internationale Gemeinschaft nicht nachlasse. Zuletzt war in Social-Media-Kanälen Bildmaterial aufgetaucht, das ukrainische Patriot-Abwehrsysteme zeigte. Die ursprünglichen Autoren waren auf Grundlage des Kriegsrechts bestraft worden.

"Wir haben die Investigativ-Plattform Bellingcat und andere Teams um eine Analyse gebeten", sagt Musaieva. Professionelle Analysten von sogenanntem Open-Source-Material sollten feststellen, ob der Standort der Flugabwehr mithilfe dieses Videos tatsächlich von den Gegnern in Russland hätte lokalisiert werden und die lebensrettenden Systeme zerstört werden können.

Das Ergebnis: Ja, diese Veröffentlichung war keine gute Idee im Sinne des Schutzes der Bevölkerung vor den russischen Bomben. Will heißen: Die Kriegsberichterstattung wird im digitalen Zeitalter noch einmal viel komplexer. Und dafür brauche es Profis – Journalistinnen und Journalisten. 

Massive russische Angriffe auf Kiew und andere Städte