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Moldau: Wie russisch ist Gagausien?

Violeta Colesnic Comrat
28. April 2023

Am Sonntag wird in der Region Gagausien im Süden der Republik Moldau ein neuer Gouverneur gewählt. Obwohl die Region mit EU-Geldern modernisiert wurde, halten die meisten Einheimischen Russland die Treue.

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Republik Moldau | Regionalwahlen Gagausien
Wahlplakate in Comrat, der Hauptstadt der Autonomen Region GagausienBild: Violeta Colesnic

Wenn an diesem Sonntag in der Autonomen Region Gagausien im Süden der Republik Moldau ein neuer Gouverneur (Bashkan) gewählt wird, steht kein einziger Kandidat mit pro-europäischen Ansichten auf dem Wahlzettel. Alle acht Mitstreiter vertreten pro-russische Positionen und haben eine kritische Einstellung zur Zentralregierung in der moldauischen Hauptstadt Chisinau.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat jedoch viele Gagausen wachgerüttelt. Die Menschen, mit denen wir auf den Straßen von Comrat, der Regionalhauptstadt, gesprochen haben, sagten uns, dass sie Frieden wollten. Auch die Rhetorik der aus dem Amt scheidenden Gouverneurin Irina Vlah hat sich geändert. 2015 hatte sie ihr erstes Mandat mit dem Slogan "Russland ist mit uns" gewonnen. Jetzt, am Ende ihrer zweiten und letzten Amtszeit, setzt sie sich für die Integration der Republik Moldau mitsamt der Autonomen Region Gagausien in die EU ein.

Lenin wacht über die Gegenwart

Auf der Lenin-Straße, dem zentralen Boulevard in Comrat, in der Nähe des Wahllokals Nr. 7, herrscht emsiges Treiben. Eine Frau in Galoschen und mit Kopftuch zieht mit einer Harke Furchen durch die regennasse Erde, hält dann inne und stützt sich auf den Harkenstiel. Ein paar Meter weiter sammelt ein Mann mit Besen und Kehrschaufel die verwelkten Nelken ein, die vom Sockel herabgefallen sind, auf dem Lenin thront. Das von Wind und Wetter grün geworden Denkmal des bolschewistischen Führers steht direkt vor dem Gebäude der  Volksversammlung, dem Regionalparlament. Auf der anderen Straßenseite fegen Gymnasiasten das Pflaster, sammeln trockene Äste ein und tragen den Müll mit ihren Eimern fort. Zwei Schüler verteilen Wahlprospekte. Die Gehwege sind sauber, Bordsteine ​​und Baumstämme weiß gekalkt. Die Stadt ist bereit für den Urnengang.

Republik Moldau | Regionalwahlen Gagausien
Comrat, die Hauptstadt Gagausiens, wird für den Wahlsonntag herausgeputzt - im Hintergrund das Lenin-DenkmalBild: Violeta Colesnic

Das Wahllokal Nr. 7 befindet sich im Kulturhaus der Stadt. Dort treffen wir Sergej, den Wachmann, der gerade seine Arbeitsschicht beendet hat. Er sagt uns, dass er am Sonntag schon ganz früh zur Arbeit kommen will, damit er bis zum Eintreffen der Mitglieder des Wahlbüros und der Beobachter alle Lichter anmachen und die Türen aufschließen kann. "Die Polizei wird schon da sein, auch die Kommission. Danach gehe ich nach Hause und komme erst abends nach Schließung des Wahllokals zurück. Ich schalte das Licht aus, schließe die Türen ab und stelle die Alarmanlage an", sagt er.

Sergej verdient 4500 Lei (etwa 225 Euro) pro Monat. Er sagt, dass er keine Gehaltserhöhung verlangen könne, weil man ihm dann sagen würde, er solle seine Kündigung einreichen. Sein Platz würde sofort von jemand anderem besetzt. Obwohl ihm nur noch wenige Tage bis zur Stimmabgabe bleiben, gibt er zu, dass er sich noch nicht entschieden habe, ob er wählen solle oder nicht. Weil er nicht wisse, welcher der Kandidaten die Wahrheit sage und welcher lüge: "Ich traue keinem von ihnen. Vielleicht seid ihr besser informiert - wem soll ich glauben? Wen soll ich wählen?" Sergej erzählt, dass er weder fernsieht, noch die Nachrichten verfolgt. Er weiß, dass Hilfe nach Gagausien kommt, aber er weiß nicht, von wem. Er spricht Russisch, weil er sich das aus der Zeit der Sowjetunion angewöhnt hat. Seine Kinder sprechen auch nur Russisch, sie haben an einer russischen Schule gelernt und auch eine russischsprachige Universität absolviert. Wahlplakate und Zeitungen, Ankündigungen, Speisekarten von Restaurants, Straßenschilder sind in Comrat alle auf Russisch.

Republik Moldau | Regionalwahlen Gagausien
Sergej, der Wachmann des Kulturhauses in ComratBild: Violeta Colesnic

Der lange Schatten sowjetischer Propaganda

Die Gagausen sind eine turkstämmige Volksgruppe im Süden der Republik Moldau. Während der Sowjetzeit fand ein Prozess der Russifizierung des gagausischen Volkes statt. Ihre Muttersprache Gagausisch wird kaum noch gesprochen. Weil nur wenige eine andere Sprache außer Russisch beherrschen, auch nicht Rumänisch, die Amtssprache der Republik Moldau, beziehen die meisten heute nur Informationen aus russischen Quellen. Viele Gagausen haben in Russland gearbeitet und gelebt. Als Putins Armee in die Ukraine einmarschierte, kehrten fast alle nach Hause zurück. Sie hatten Angst davor, eingezogen und an die Front geschickt zu werden, denn viele Männer haben neben der moldauischen auch die russische Staatsbürgerschaft.

Der 23-jährige Valeriu, der gerade seinen Abschluss an der Universität von Comrat gemacht hat, drückt uns einige Wahlprospekte in die Hand. Er erzählt uns, wie wichtig die Unterstützung Russlands für die Erringung der gagausischen Autonomie Anfang der 1990er Jahre war. Das hätten ihm sowohl seine Eltern als auch die Lehrer in der Schule erzählt. "Deshalb ist die Bevölkerung hier pro-russisch eingestellt und unterstützt Russland", sagt er selbstbewusst.

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Valeriu verteilt Wahlprospekte im Zentrum der Regionalhauptstadt ComratBild: Violeta Colesnic

Auf der Titelseite des Wahlprospekts ist einer der Kandidaten abgebildet - zusammen mit dem Gouverneur der russischen Region Tatarstan, Rustam Minnichanow. Diesem war kürzlich von den Zentralbehörden in Chisinau die Einreise in die Republik Moldau verweigert worden. Minnichanow gehört zu den Unterstützern des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Krieg gegen die Ukraine und steht auf den westlichen Sanktionslisten.

Die EU ist weit weg

An jeder Straßenecke, an Werbetafeln, Säulen, Zäunen, verlassenen Häusern und sogar an den Wänden von Autowaschanlagen hängen Wahlplakate mit den Gesichtern und Slogans der acht Kandidaten. Und dennoch: Fast alle Menschen, mit denen wir sprachen, sagten uns, sie würden am Sonntag nicht zur Abstimmung gehen. Sergej - ein anderer Sergej als der Wachmann im Wahllokal - verkauft Setzlinge auf dem Gemüsemarkt im Stadtzentrum. Als wir ihn trafen, war er verärgert, dass er seine Ware nicht loswerden konnte und zusehen musste, wie sie in der Sonne verdorrte. "Wir verkaufen Setzlinge, wir beschäftigen uns nicht mit Politik. Ich werde am Sonntag nicht wählen gehen. Es ist wie immer: Wir gehen hin und wählen sie, und sie kümmern sich nicht einmal um uns." Das Leben sei schwer, die Leute hätten kaum Geld für frische Lebensmittel. Während einheimische Produzenten ihre Äpfel oder Tomaten nicht verkaufen könnten, seien die Läden voller importierter Produkte. "Wenn die Moldau der EU beitritt, kann das Land nur verlieren, denn sie werden unseren Markt überrollen", sagt der Mann entschieden. Es ist der gleiche Diskurs wie der des pro-russischen Ex-Präsidenten Igor Dodon über eine "Invasion mit europäischen Agrarprodukten und anderen Lebensmitteln".

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Nicolae erklärt, warum die meisten Bewohner Gagausiens die pro-russischen Kräfte wählenBild: Violeta Colesnic

Nicolae war der einzige, der mit uns Rumänisch sprechen wollte. Er erzählte uns, dass die meisten Straßen in Comrat noch die Namen aus der Sowjetzeit behalten haben. "Hier sind wir in der Pobeda-Straße (Straße des Sieges), da drüben ist die Lenin-Straße, die Straße der Panzerfahrer, des Komsomol usw. Lenin hat ein Denkmal mitten im Stadtzentrum, ihr habt es gesehen - er trägt eine Mütze wie meine und steht mit ausgestreckter Hand da", sagt der Mann und hebt eine Hand, um Lenin nachzuahmen.

Die Gagausen seien schon immer auf der Seite der Kommunisten gewesen, sagt Nicolae. Deshalb seien sie pro-russisch. Ihnen sei versprochen worden, dass sich Gagausien mit Transnistrien (der separatistischen Region im östlichen Teil der Republik Moldau - Anm. d. Red.) vereinigen und Putin ihnen kostenloses Benzin geben würde. Die meisten Menschen würden nur noch Russisch sprechen - weder die eigene gagausische Sprache, noch die Landessprache Rumänisch. "Die Leute wollen kein Rumänisch lernen, weil ihnen viel Propaganda in den Kopf gesetzt wurde. Nur damit Sie es wissen, hier wird eine anti-moldauische Politik betrieben. Am Sonntag werden die Menschen für die Kandidaten stimmen, die in ihren Wahlbotschaften den Slogan 'für Russland' verwenden", sagt uns der Mann.

Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz