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Nahostkrieg: Wohin sollen die Menschen in Gaza fliehen?

19. Februar 2024

Über eine Million Palästinenser sind nach Rafah im Süden des Gazastreifens geflohen. Israels Premier Benjamin Netanjahu droht, dort eine Bodenoffensive zu starten. Das bewegte auch die Münchner Sicherheitskonferenz.

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Eine geflüchtete Frau steht neben Zelten in Gaza, nahe der Grenze zu Ägypten
Eine geflüchtete Frau nahe der Grenze zu Ägypten: Viele Menschen wurden bereits mehrfach evakuiert Bild: Mohammed Abed/AFP

Monatelang hatte die israelische Regierung die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen aufgefordert, gen Süden zu fliehen. Mittlerweile befinden sich laut Hilfsorganisationen rund 1,5 Millionen Menschen an der Grenze zu Ägypten in der Stadt Rafah, die ursprünglich etwa 300.000 Einwohner zählte. Viele von ihnen wurden bereits mehrfach evakuiert. Die Lebensbedingungen dort sind katastrophal: Viele Flüchtlinge harren in der Kälte in provisorischen Unterkünften und Zelten aus. Essen, Trinkwasser und Medikamente sind knapp. 

Bald könnte sich die Lage für die Menschen vor Ort weiter verschlechtern. Denn der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hält weiterhin daran fest, die Bodenoffensive auf Rafah auszuweiten, um auch dort gegen die Hamas vorzugehen, die von Deutschland, der EU, den USA und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird. Vor dem Beginn einer Offensive werde die israelische Seite es den Zivilisten in den Kampfgebieten aber ermöglichen, sich in sichere Gegenden zu begeben, erklärte er.

Die Pläne stoßen international auf große Kritik. Auch die USA als wichtigster Verbündeter Israels warnen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock verlangte mit Blick auf Rafah, langfristig sichere Orte für die Menschen dort einzurichten. Sie sprach von einer "humanitären Katastrophe mit Ansage".

Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober mit rund 1200 Todesopfern hatte Israel der Hamas den Krieg erklärt. Bei der israelischen Offensive im Gazastreifen sind nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher knapp 29.000 Menschen getötet worden. 

Scharfe Warnung an Netanjahu

Der Krieg im Gazastreifen rückte auch zum Abschluss der 60. Münchner Sicherheitskonferenz nochmal in den Fokus. Der im Westjordanland regierende palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtaje forderte bei der Tagung die israelische Regierung auf, die im Süden des Gazastreifens zusammengedrängte Bevölkerung zurück in ihre Wohngebiete zu lassen.

Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtaje spricht vor der Münchener Sicherheitskonferenz
Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Schtaje warnt vor einer militärischen Vertreibung der Menschen nach ÄgyptenBild: THOMAS KIENZLE/AFP

Er warnte Netanjahu zugleich davor zu versuchen, die Menschen mit militärischen Mitteln ins benachbarte Ägypten zu vertreiben. "Wir und die Ägypter haben intensiv daran gearbeitet, um dies nicht zu erlauben", sagte Schtaje. Er fügte hinzu, auf Einladung Russlands werde es noch im Februar ein Treffen aller palästinensischen Gruppen in Moskau geben. Bei einer von der DW geführten Diskussion sagte er: "Wir werden sehen, ob die Hamas bereit ist, sich mit uns zu einigen." Sie seien zur Zusammenarbeit bereit.

MSC: Zwischen Kritik und Verständnis

Die ehemalige Sprecherin der US-Demokraten im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, sagte der DW: "Das Verhalten von Netanjahu ist meiner Meinung nach unentschuldbar, was die Auswirkungen, die Kollateralschäden für Kinder und Familien und den Rest angeht." Sie fügte hinzu: "Niemand kann einem Land das Recht nehmen, sich zu verteidigen, das auf diese Weise brutal angegriffen wurde. Aber ich würde hoffen, dass sie den Aufruf von Minister Antony Blinken und natürlich von Präsident Joe Biden - wir alle sind Freunde Israels - hören und vorsichtig mit den Zivilisten umgehen."

Der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz appellierte gegenüber der Deutschen Welle an Israels Regierung: "Schützen Sie die Zivilisten, aber bekämpfen Sie den Terrorismus im Gazastreifen, damit dieses Problem nie wieder auftritt." Er werde der israelischen Regierung niemals "öffentlich mit dem erhobenen Zeigefinger" Ratschläge erteilen. "Sie haben ihre eigenen Probleme. Sie müssen sie lösen, und sie verdienen unsere volle Unterstützung."

Wohin können oder müssen die Flüchtlinge gehen?

Über die wenigen Möglichkeiten, die die palästinensischen Binnenflüchtlinge bei einer Bodenoffensive auf Rafah hätten, wird seit Tagen spekuliert. Medien hatten unter Berufung auf Sicherheitskreise und der NGO Sinai Foundation for Human Rights berichtet, Ägypten bereite riesige umzäunte Auffanglager für bis zu 100.000 palästinensische Flüchtlinge vor.

Diese Berichte hatte Ägypten jüngst zurückgewiesen. Es sei gegen die Vertreibung von Palästinensern und auch gegen das freiwillige Verlassen des Gazastreifens, teilte der Leiter des Staatsinformationsdiensts (SIS), Diaa Raschwan, mit. Ägypten habe aber schon lange vor Beginn des israelischen Militäreinsatzes in dem Küstenstreifen auf seiner Seite der Grenz eine Pufferzone und Zäune errichtet. Ägypten baue im Grenzgebiet zum Gazastreifen keine Lager für Palästinenser, sondern für Hilfsgüter, hieß es aus ägyptischen Sicherheitskreisen.

Leben im Zelt an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten

Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR wollte sich auf DW-Anfrage nicht zu den "Spekulationen" zu einem möglichen Lager äußern. Flüchtlingskommissar Filippo Grandi erklärte in einem BBC-Fernsehinterview am Freitag, die Position Ägyptens sei klar. "Die Menschen sollten nicht über die Grenze gehen. Ich denke, Ägypten hat sehr triftige Gründe. Es wäre eine Katastrophe für die Palästinenser, insbesondere für diejenigen, die erneut vertrieben werden müssten. Für Ägypten wäre es in jeder Hinsicht katastrophal, und was noch wichtiger ist: Eine weitere Flüchtlingskrise wäre fast der Sargnagel für einen künftigen Friedensprozess." 

Ägypten zwischen allen Stühlen

Tatsächlich hatte sich Ägypten schon seit Beginn des Krieges gegen eine Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge ausgesprochen. Zu groß ist die Angst, dass sich das wirtschaftlich angeschlagene Land übernehmen könnte. Schon jetzt beherbergt Ägypten hunderttausende Flüchtlinge und Asylsuchende, vor allem aus dem Sudan. Das Land befürchtet zudem, dass Israel die Flüchtlinge nicht wieder zurück in den Gazastreifen lassen würde. Auch die Angst, dass sich unter den Flüchtenden auch Hamas-Terroristen befinden könnten, bestimmt die Haltung der Regierung in Kairo.

Ein anderer Plan für die palästinensischen Flüchtlinge wäre die Flucht gen Norden, zurück in die größtenteils zerstörten Städte des Gazastreifens. Sollte Israel eine Offensive starten, würde die Armee versuchen, die Zivilbevölkerung Richtung Norden zu verlagern, so ein israelischer Militärvertreter.

Leben zwischen Ruinen

Für die israelische Tageszeitung "Haaretz" ist eine Verlagerung schwierig. Die Gegend rund um die nahegelegene Ortschaft Al-Mawasi, nördlich von Rafah, könne nicht hunderttausende Menschen in Zelten unterbringen. Eine Rückkehr nach Gaza-Stadt oder nach Chan Junis wäre ein "Leben zwischen Ruinen ohne Infrastruktur".

GAZA Kinder in Trümmern einer Moschee
Kinder in den Trümmern einer Moschee in Rafah: Die Gebäude im Gazastreifen sind zur Hälfte zerstört Bild: MOHAMMED ABED/AFP via Getty Images

Ende Januar war laut UN-Angaben die Hälfte aller Gebäude im Gazastreifen beschädigt oder zerstört. Das Gebiet sei praktisch "unbewohnbar". Der Prozentsatz der Zerstörung dürfte mittlerweile noch höher sein. Schon seit Tagen berichten Medien zudem über Luftangriffe auf Rafah. Laut Nachrichtenagenturen wurden dabei auch etliche Menschen getötet.

Eine mögliche Atempause für die Menschen vor Ort wird am Dienstag vor dem UN-Sicherheitsrat verhandelt. Der Rat beschäftigt sich mit einem Resolutionsentwurf, der eine "sofortige humanitäre Waffenruhe" fordert - sowie die Freilassung aller israelischen Geiseln. Die USA haben bereits ihr Veto eingelegt. Sie bevorzugen im Gegenzug eine Geiselfreilassung mit einer sechswöchigen Feuerpause.

Stephanie Höppner Autorin und Redakteurin für Politik und Gesellschaft