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GesellschaftEuropa

Medien als Zielscheibe

24. Oktober 2020

Wegen zunehmender Anfeindungen schickt die niederländische Rundfunkanstalt NOS Techniker und Journalisten nur noch "anonym" auf die Straße. Wird Gewalt gegen die Presse zum Normalzustand in Europa?

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Niederlande Fernsehsender NOS
Bild: Niels Wenstedt/PRO SHOTS/picture-alliance

"Immer. Überall. NOS" - das stand bisher groß orange umkreist auf den Übertragungswagen des „Nederlandse Omroep Stichting“, einer Anstalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks der Niederlande. Nun werden jegliche Schriftzüge und Logos von den Fahrzeugen entfernt, wie der Chefredakteur von "NOS Nieuws", Marcel Gelauff, vergangene Woche mitteilte. 

Denn die Übergriffe auf Mitarbeiter nähmen Überhand. Kollegen würden nahezu täglich auf der Straße mit erhobenen Mittelfingern konfrontiert, berichtet Gelauff, sie würden mit Müll beworfen, die Firmenwagen auf der Autobahn von anderen Fahrzeugen geschnitten. Mehr als hundert solcher Vorfälle habe es im Laufe des Jahres schon gegeben.

Journalismus in den Niederlanden
TV-Journalisten sind besonders gut also solche erkennbar - und werden oft zur ZielscheibeBild: Koen Laureij/PRO SHOTS/picture-alliance

Nachdem schon seit Längerem Personenschützer Reporter zu Demonstrationen und anderen brenzligen Einsätzen begleiten würden, sei leider auch "dieser Schritt für die Sicherheit der Menschen notwendig, die jeden Tag für die NOS unterwegs sind". Man habe über Monate darüber gegrübelt, weil man als öffentlich-rechtliche Anstalt eigentlich sichtbar und zugänglich sein wolle, heißt es auf der NOS-Seite: "Aber so kann es nicht weitergehen." 

"Schreckliches gesellschaftliches Versagen"

Die Entscheidung der NOS hat sowohl in den Niederlanden als auch in anderen europäischen Ländern für Betroffenheit gesorgt. Der niederländische Minister für Medien, Arie Slob, sagte, er nehme die Lage sehr ernst. Der Deutsche Journalisten-Verband DJV nannte Gewalt gegen Journalisten "inakzeptabel". Lutz Kinkel vom "European Centre for Press and Media Freedom" (ECPMF) äußert gegenüber der Deutschen Welle Verständnis dafür, dass die Logos von den Fahrzeugen entfernt wurden, "denn der Schutz der Mitarbeiter hat Priorität. Aber es ist ein schreckliches gesellschaftliches Versagen, dass Journalisten inzwischen so zu Feindbildern geworden sind." 

Und das gelte nicht nur für die Niederlande, sondern auch für viele andere europäische Länder, so Kinkel. Allein von Juli bis September gab es 34 gemeldete und vom ECPMF überprüfte Übergriffe von Privatpersonen auf Journalisten, viele davon auf Demos. Aber auch online entlädt sich die Wut gegen Medienschaffende. Oft entsteht sie sogar erst dort, um dann in die analoge Welt überzuschwappen, glaubt der Geschäftsführer des von der EU geförderten ECPMF: "Der insgesamt rauere Umgangston ist auch eine Folge der digitalen Transformation. Seitdem haben sich die Grenzen dessen, was sagbar ist, deutlich verschoben." In den sozialen Netzwerken verkriechen sich Viele zudem in ihrer eigenen Welt mit eigenen "Nachrichtenquellen" - extreme Standpunkte und das Misstrauen gegen die traditionellen Medien verstärken sich so immer weiter.

Übergriffe auch auf Corona-Demos in Berlin

In Deutschland haben in diesem Jahr ebenfalls Attacken auf Journalisten für Schlagzeilen gesorgt. ZDF-Journalistin Dunja Hayali sah sich Anfang August wegen Sicherheitsbedenken gezwungen, Dreharbeiten auf einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin abzubrechen. Im Mai griffen - ebenfalls am Rande einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen - 15 Personen ein Kamerateam der "heute-show" an, dabei wurden fünf Mitarbeiter der ZDF-Satiresendung verletzt.

Deutschland Berlin | Angriff auf ZDF Team heute Show
Die Ausrüstung des ZDF-Kamerateams nach dem Angriff in Berlin im MaiBild: picture-alliance/dpa/C. Soeder

Dem ECPMF zufolge gab es hierzulande von Anfang 2015 bis März diesen Jahres 119 dokumentierte gewaltsame Angriffe auf Journalisten - ein Großteil davon aus dem rechten Spektrum. In einer jährlichen Erhebung der Nichtregierungsorganisation heißt es: "Politische Demonstrationen des rechten Lagers sind die gefährlichsten Orte für Journalistinnen und Journalisten."

Zunehmende Polarisierung der Gesellschaft

Angriffe auf Medienmitarbeiter sind also auch ein spezifisch rechtes Problem. Dabei wird der Hass auf Journalisten oftmals von Politikern befeuert. "Rechtspopulisten haben einen großen Anteil daran, dass Journalisten zunehmend zur Zielscheibe werden", sagt auch Lutz Kinkel. Sie behaupten etwa oft, öffentlich-rechtliche Medien seien von der Regierung gesteuert. Nicht umsonst wurde der Begriff "Lügenpresse" in Deutschland 2014 zum Unwort des Jahres gekürt, nachdem er immer wieder auf fremdenfeindlichen PEGIDA-Demonstrationen skandiert wurde.

Auch Marcel Gelauff vom niederländischen NOS erklärte gegenüber Medien, rechte Politiker wie Geert Wilders oder Thierry Baudet würden mit ihren Frontalangriffen Teile der Bevölkerung ermutigen, sich zu radikalisieren. Dabei müsste die Politik den Journalismus eigentlich unterstützen, "weil das ein Fundament für unsere Demokratie ist".
Während in westeuropäischen Ländern vor allem öffentlich-rechtliche Medien unter Beschuss durch Rechtspopulisten stehen, ist die Lage in Osteuropa oft anders, wie ECPMF-Geschäftsführer Kinkel weiß: "Weil die Öffentlich-Rechtlichen zum Beispiel in Polen und Ungarn schon integraler Bestandteil des PR-Apparats rechtskonservativer Regierungen sind, haben diese eher private Medien ins Visier genommen."

Niederlande Geert Wilders - Debatte des Repräsentantenhauses über das Coronavirus
Geert Wilders spricht auf Facebook etwa von der "NOS und den restlichen verlogenen Medien"Bild: Bart Grösse/ANP/picture-alliance

Mehr Medienkompetenz

Insgesamt jedenfalls scheint das Ausleben von Aggressionen gegen Medienschaffende immer mehr zum Normalzustand zu werden. "Wir sehen an unseren Statistiken und etwa an dem, was Reporter ohne Grenzen berichtet: Es wird nicht besser, sondern eher schlechter", so Kinkel. 

Und was kann man dagegen tun? "Nichts rechtfertigt, Journalisten zu beleidigen, zu bedrohen oder sogar anzugreifen. Aber es gibt auch seitens der Medien einige Versäumnisse", sagt Kinkel. So sei seit Jahren das Problem bekannt, dass viele Redaktionen nicht besonders divers aufgestellt sind - was aber wichtig wäre, um gesellschaftliche Realitäten besser abzubilden. Nach Ansicht Kinkels machen zudem Journalisten bis heute ihren Job nicht ausreichend transparent.

Als gesamtgesellschaftliches Werkzeug im Kampf gegen die Polarisierung sieht er, die Medienkompetenz der Bürger zu fördern. "Aus meiner Sicht müsste das Pflichtprogramm werden, und zwar von Kindheit an. Wenn die Leute nicht mit Medien umgehen können und nicht verstehen, was ein faktenbasierter Diskurs ist, dann verschwindet auch eine sinnstiftende öffentliche Debatte - und irgendwann auch die Demokratie."

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis