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Orcas versenken Segelboote - alles nur ein Spiel?

15. Juni 2023

Erneut hat eine Gruppe von Orcas ein Segelboot in der Straße von Gibraltar attackiert und versenkt. Viele Forschende glauben nicht, dass es sich um aggressives Verhalten handelt, sondern um einen neumodischen Trend.

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Spanien Attacke Orca-Wal
Der Spieltrieb und die Rüpelhaftigkeit heranwachsender Orcas steht menschlichen Teenagern in nichts nachBild: Brend Schuil/Team Jajo/The Ocean Race/dpa/picture alliance

Zuerst sei es nur ein einzelner Orca gewesen, der aus dem Wasser sprang und zwischen den beiden Rümpfen des 14 Meter langen Katamarans hinweg tauchte. "Im Nachhinein erschien er uns wie ein Kundschafter", sagt Amy, die Teil der vierköpfigen Crew auf dem Boot war, das auf dem Weg nach Griechenland gerade die Straße von Gibraltar passierte.

Wenige Minuten später war das Tier zurück – mit einigen Orca-Kollegen im Schlepptau. Fünf oder sechs Tiere seien es gewesen, die nun begannen, das Boot zu rammen, erzählt Amy. 

"Angst hatte ich nicht", sagt die junge Frau. Allerdings war ihr zu dem Zeitpunkt auch nicht bewusst, dass es mittlerweile mehrere hundert Zwischenfälle gab, die dem ähneln, was auch Amy erlebt hat. Einige wenige Boote beschädigten die Orcas so schwer, dass sie sanken – bisher, ohne dass dabei eine Person zu Schaden gekommen ist.

Mehr Orcas bei Attacken auf Wasserfahrzeuge

Seit Juli 2020 melden Segler in der Straße von Gibraltar und entlang der iberischen Atlantikküste Orca-Attacken auf ihre Boote. Während die meisten mit dem Schrecken und einem demolierten Kahn davonkommen, beschädigen die Tiere so manches Boot so schwer, dass es sinkt. So erging es vor rund einer Woche einer polnischen Segelyacht. Die Crewmitglieder blieben unverletzt.

Boote zu rammen, ins Ruderblatt zu beißen und sich die Wasserfahrzeuge wie Bälle zuzuspielen - dieses bis dahin ungewöhnliche Verhalten zeigten zunächst nur zwei bis drei Tiere – mittlerweile sollen es mindestens 16 Individuen der Population Orca Iberica sein, die Gefallen an diesen Aktivitäten gefunden haben.

Angriff der Orcas

Orcas, die auch Schwert- oder Killerwale genannt werden, zählen zur Familie der Delfine. Sie leben ähnlich lang wie Menschen – und pflegen in dieser Zeit enge Sozialkontakte zu ihrer Familie. Ob in den eisigen Gewässern der Antarktis oder den Tropen, in Küstengewässern oder auf offener See – die verschiedenen Orca-Subpopulationen kommen fast überall vor.

Forschende haben herausgefunden, dass die jede Population ihre eigenen Nahrungsvorlieben, Sprachen und Verhaltensweisen entwickelt hat. Bisher sind es nur die Orca Iberica, die eine Vorliebe für das Rammen von Booten entwickelt haben.

Nach 20 Minuten ließ die Gruppe von Amys Boot ab. Aber in diesen 20 Minuten erlebte die Crew eine emotionale Achterbahnfahrt: Faszination über die Erscheinung und die schiere Kraft der Tiere wechselte sich mit heller Aufregung und der bangen Frage ab, wie demoliert der Katamaran am Ende sein könnte.

Warum rammen Orcas Boote?

Es klingt vielleicht komisch, aber es hat sich zu keinem Zeitpunkt angefühlt als würden sie attackieren", sagt Amy. Eher als sei es ein Spiel gewesen. 

Das ist auch für die Biologin Monika Wieland Shields die wahrscheinlichste Erklärung für das Verhalten der Orcas.

"Wenn sie wirklich gezielt angreifen würden, wäre der Schaden viel größer", sagt die Verhaltensforscherin und Direktorin des Orca Behavior Institutes, einer wissenschaftlichen Organisation, die das Verhalten zweier Orca-Populationen vor der Küste des US-Bundesstaates Washington erforscht. 

Trotzdem wird unter Wissenschaftlern die These diskutiert, die Tiere wollten Rache für erlittenes Unrecht nehmen. Orcas sind in der Vergangenheit immer wieder von Harpunen getroffen oder bei anderen Zusammenstößen mit dem Menschen verletzt worden. In der Straße von Gibraltar herrscht reger Schiffsverkehr, der Lärm könnte den Tieren zusetzen. Außerdem konkurrieren die Orca Iberica mit dem Menschen um ihre Nahrungsgrundlage: Thunfisch. Bisher hatte all das die Tiere allerdings nicht dazu veranlasst, Menschen gezielten Schaden zuzufügen.

Befreit die Wale!

An der Küste Washingtons seien in den 1960er und 1970er Jahren Jungtiere gefangen und vor den Muttertieren aus dem Wasser geholt worden, erzählt Wieland Shields. "Wenn etwas eine aggressive Reaktion triggern würde, dann hätte ich erwartet, dass es eine solche Situation ist", sagt die Biologin. Doch damals seien sogar Taucher im Wasser gewesen und die Orcas hätten ihnen nichts getan.

Orcas als Trendsetter

Was nicht heißen soll, dass eine gezielte Racheaktion als Grund für das Rammen der Boote komplett ausgeschlossen werden kann. Wieland Shields fehlen allerdings die Beweise für diese These. Ihre Erklärung - und die anderer Experten - für das Verhalten der Orcas basiert auf einer Beobachtung, die Verhaltensforschende schon seit Jahrzehnten machen: Orcas haben einen Sinn für Trends.

In den 1980er Jahren begann ein Orca vor der Küste Washingtons damit, einen toten Lachs auf dem Kopf umherzutragen. Es dauerte nicht lange und andere Wale schmückten sich ebenfalls mit einem Lachs-Hut. Im Jahr darauf nahm die Begeisterung für die Kopfbedeckung bereits wieder ab, bis sie schließlich ganz verschwand.

Auch Bojen oder die von Krabbenkuttern ins Wasser gelassenen Reusen werden immer wieder als Walspielzeuge zweckentfremdet. Für eine gewisse Zeit machen viele Orcas mit – bis das Interesse nachlässt und Bojen-Versenken aus der Mode gekommen ist. "Es sind vor allem juvenile Wale, die sich so verhalten", sagt Wieland Shields. 

Neugier, Experimentierfreude und Rüpelhaftigkeit, die leicht mal übers Ziel hinausschießt – es ist das Verhalten von Teenagern. Das könnte möglicherweise auch für Orcas gelten.

"Wir tendieren dazu zu glauben, manche Verhaltensweisen seien ausschließlich menschlich", sagt Verhaltensforscherin Wieland Shields. Diese Annahme habe sich in der Vergangenheit schon häufig als falsch herausgestellt.

"Lange dachten wir, dass nur Menschen Werkzeuge nutzen oder dass Kultur etwas ausschließlich Menschliches ist. Je mehr wir andere Spezies studieren, desto mehr müssen wir diesen Annahmen fallen lassen", sagt Wieland Shields. Für die Verhaltensbiologin ist es deshalb nicht zu weit hergeholt, Parallelen zwischen jungen Walen und jungen Menschen zu ziehen.

Der Orca Tilikum schaut durch die Scheibe seines Aquariums im SeaWorld Orlando, Florida, auf vier Trainerinnen, die vor dem Becken stehen
Der Orca Tilikum wurde als Jungtier gefangen und verbrachte sein Leben in Gefangenschaft. Er ist für den Tod von drei Menschen verantwortlich.Bild: Phelan M. Ebenhack/picture alliance/dpa

Warum werden Orcas aggressiv?

"Die Gehirne von Orca sind zu hochkomplexen Emotionen fähig", erklärt Wieland Shields. Neugier, Freude, Spieltrieb gehörten ebenso zu ihrem Gefühlsspektrum wie Frustration, Angst oder Wut. Letzteres ist vor allem bei in Gefangenschaft lebenden Orcas zu beobachten.

Während es bisher keinen dokumentierten, tödlichen Angriff wildlebender Orcas auf Menschen gegeben hat, ist die Liste der Attacken gefangener Tiere in Parks wie Sea World, bei denen sie Menschen schwer verletzt oder getötet haben, lang.

Für Wieland Shields spricht auch das Verhalten von Orcas in Gefangenschaft für die Komplexität ihrer Persönlichkeiten: Während die Toleranzschwelle einiger Tiere hoch ist, adaptieren sich andere weniger an das Leben in kleinen Betonbecken und tägliche Dressur.

Klar ist deshalb für Wieland Shields: "Wenn die Umstände drastisch genug sind, kann das ein solch anormales Verhalten provozieren." Für die Biologin heißt das aber auch: Wenn der Plan der Orca Iberica tatsächlich wäre, den Booten und den Crews den Garaus zu machen – sie hätten leichtes Spiel.

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 16.6.2023 geschrieben und am 7.11.2023 aktualisiert, nachdem Orcas in der Straße von Gibraltar ein Boot so schwer beschädigt hatten, dass es sank.

DW Mitarbeiterportrait | Julia Vergin
Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.