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PolitikPolen

Polen: Familie, die Juden rettete, wird seliggesprochen

Katarzyna Domagala-Pereira | Joanna Bercal (Interia)
9. September 2023

Die polnischen Eheleute Ulma und ihre sieben Kinder wurden von deutschen Besatzern ermordet, weil sie Juden versteckt hatten. Jetzt wird die Familie selig gesprochen. Ein Präzedenzfall in der katholischen Kirche.

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Altes Bild in Sepia mit einer Mutter, ihren Kindern und Schafen auf einer Wiese
Wiktoria Ulma mit ihren sechs Kindern. Sie war im siebten Monat schwanger, als sie getötet wurdeBild: Zbiory Cyfrowe Muzeum Polaków Ratujących Żydów podczas II wojny światowej w Markowej

Es ist der 24. März 1944. In Markowa, einem kleinen polnischen Dorf unweit der Grenze zur Ukraine, dämmert es. Ein Gendarm klopft an die Tür von Teofil Kielar. "Wir haben Juden erschossen. Bei den Ulmas", sagt er. Der Dorfvorsteher soll Männer zusammenrufen, um Gräber auszuheben. Kielar eilt zum Haus von Jozef Ulma. Unterwegs hört er noch einen Schuss.

Auf dem Hof sieht er ein Kind auf dem Boden liegen. Ein Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Sie bewegt noch ihre rechte Hand. Direkt neben ihr liegen die leblosen Körper der Eltern, der hochschwangeren Wiktoria und Jozef, sowie der fünf Geschwister, darunter die Schülerin Stasia. Und ein Stück weiter Saul Goldman, einer der acht Juden, die die Ulmas versteckt hatten.

Porträt eines Mannes in Wehrmachtsuniform
Der deutsche Polizist Eilert Dieken während seines Dienstes im besetzen PolenBild: Zbiory Cyfrowe Muzeum Polaków Ratujących Żydów podczas II wojny światowej w Markowej

Neben den Toten steht der deutsche Oberleutnant der Polizei Eilert Dieken. "Ich ging zu ihm und fragte: 'Warum habt ihr die Kinder erschossen?' Worauf er mir antwortete: 'Damit die Gemeinde kein Problem mit ihnen hat'", berichtet Dorfvorsteher Kielar im März 1958.

Die Spur

Sehr geehrte Familie Ulma! (...) Ich bin die Tochter von Eilert Dieken, der (…) verstorben ist. Mir ist bekannt aufgrund des Briefwechsels, dass er im Krieg in Lancut seinen Dienst verrichtet hat. Zu meiner Freude wird mir bekannt, dass er aufgrund seiner Handlungen den Menschen Gutes getan hat. Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet! (...)

Foto und Entnazifizierungsbescheid von Eilert Dieken
Foto und Entnazifizierungsbescheid von Eilert DiekenBild: Instytut Pileckiego w Berlinie

Der Brief der ältesten Tochter von Eilert Dieken stammt vom 18. Februar 2013. Für Mateusz Szpytma ist er eine wichtige Spur. Der polnische Historiker versucht seit Jahren herauszufinden, was mit den Tätern von Markowa passiert ist.

Auf Eilert Dieken stößt Szpytma zufällig. Im Internet findet er eine Geschichte der Polizei der ostfriesischen Kleinstadt Esens, in der ein Inspektor dieses Namens erwähnt wird. In einem Brief an die dortige Polizeistation schreibt Szpytma, dass er ein Museum in Markowa gegründet hat und um Informationen über den ehemaligen Gendarmen bittet.

Nach einiger Zeit kommt die Antwort: Nach dem Krieg arbeitete Eilert Dieken auf dem Polizeiposten in Esens. Das zeigen auch beigefügte Fotos. Anderthalb Jahre später kommt der Brief von der Tochter. Szpytma vereinbart ein Treffen.

Terror-Polizisten

Im Zweiten Weltkrieg wurden in die vom Dritten Reich besetzten Gebiete nicht nur Wehrmacht und SS geschickt, sondern auch deutsche Polizei. Eilert Dieken diente ab 1941 im Städtchen Landshut (Lancut) im Karpatenvorland. Er leitete den dortigen Gendarmerieposten.

Altes Foto einer Familie mit Kindern beim Picknick
Wiktoria (l.) und Jozef Ulma (r.) mit ihren Kindern und einem Verwandten (m.) bei einem AusflugBild: Zbiory Cyfrowe Muzeum Polaków Ratujących Żydów podczas II wojny światowej w Markowej

Zu seinen Aufgaben gehörte es, sich um die Einhaltung der Gesetze zu kümmern, darunter die Verordnung über die Aufenthaltsbeschränkung im Generalgouvernement. Ab Oktober 1941 drohte dort nicht nur den Juden die aus den Ghettos flüchteten, in die sie die Nationalsozialisten eingepfercht hatten, der Tod. Auch Menschen, die sie versteckten - wie die Ulmas - wurden grausam bestraft und getötet.

Waren die Ulmas "zu mutig"?

"Stasia war ein kluges und ruhiges Mädchen, eine sehr gute Schülerin", erinnert sich Roman Kluz, der Neffe von Wiktoria Ulma. "Auch Onkel Jozef war ein begabter Mann mit vielen Ideen. Er züchtete Seidenraupen, pflanzte Maulbeerbäume, baute sich einen Fotoapparat und machte damit eine Menge Fotos."

Altes Foto auf dem drei Männer Holz sägen und hacken
Juden, die von polnischen Familien versteckt wurden, helfen bei der Feldarbeit - wie bei den UlmasBild: Zbiory Cyfrowe Muzeum Polaków Ratujących Żydów podczas II wojny światowej w Markowej

"Die Ulmas waren eine ruhige Familie", sagt Eugeniusz Szylar. Sein Vater Franciszek war Zeuge ihrer Ermordung. "Vielleicht waren sie zu mutig?", mutmaßt er. Auch Szylars Familie hat damals Juden versteckt - aber von denen durfte keiner tagsüber das Haus verlassen. Bei den Ulmas dagegen halfen die Juden bei der Feldarbeit.

Mord auf Diekens Befehl

Für Eugeniusz Szylar bleibt der Tag der Ermordung der Ulmas einer der schlimmsten des ganzen Krieges: "Ich war 12 Jahre alt und habe in der Schule erfahren, was passiert ist. Weinend ging ich nach Hause und stellte mir vor, wie die Deutschen nachts zu uns kommen und uns im Schlaf erschießen".

Blick auf eine Metallwand, die die Fotos eingelassen sind. Sie steht im "Polnischen Museum zur Rettung der Juden während des Zweiten Weltkriegs" in Markowa
Bilder aus der Besatzungszeit im "Polnischen Museum zur Rettung der Juden während des Zweiten Weltkriegs" in MarkowaBild: picture-alliance/dpa/D. Delmanowicz

Nur zwei Täter mussten für den Tod der Großfamilie und der acht Juden büßen: Der Gendarm der polnischen Polizei, der die Familie an die Deutschen verraten hatte, wurde von polnischen Untergrundkämpfern erschossen. Ein ehemaliger deutscher Polizist, Josef Kokot, wurde 1958 von einem polnischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinen Aussagen versicherte er, auf Diekens Befehl gemordet zu haben.

Ein geachteter Mann

Zu diesem Zeitpunkt lebt Eilert Dieken bereits lange in Esens. Manche Bewohner der Kleinstadt erinnern sich an den Oberleutnant der Polizei. "Sehr nett und hilfsbereit", sagt eine ältere Dame am Telefon.

Foto aus den 1950er Jahren, es zeigt vier Männer in Uniform an einem Tisch
"Sehr nett und hilfsbereit": Eilert Dieken (2.v.l.) mit Kollegen aus der Polizeistation von Esens in den 1950er JahrenBild: Zbiory Cyfrowe Muzeum Polaków Ratujących Żydów podczas II wojny światowej w Markowej

"Er war ein ranghohes Mitglied der Polizeibehörde. Wir respektierten ihn", erinnert sich der hochbetagte Esenser Theodor Sjuts. Dieken war sehr beliebt, auch bei den jungen Leuten. Sjuts ist schockiert, als er erfährt, für welche Verbrechen der Polizist verantwortlich ist.

Kein Problem bei der Entnazifizierung

Schockiert ist auch Klaus Wilbers, Ex-Polizist und ehemaliger Bürgermeister von Esens. Als er 1973 den Dienst aufnimmt, ist Eilert Dieken schon seit dreizehn Jahren tot. Die Kollegen in der Wache erzählen aber immer noch von dem autoritären Mann. Wilbers erinnert sich, dass unter den älteren Polizisten Broschüren die Runde machten, die eindeutig nationalsozialistisch waren.

Ein älterer Herr sitzt auf einem grünen Sofa vor einer grünlichen Wand, an der Bilder hängen. Es ist Klaus Wilbers, Ex-Polizist und Bürgermeister der norddeutschen Kleinstadt Esens
Ist schockiert von Eilert Diekens Untaten in Polen: Klaus Wilbers, Ex-Polizist und Bürgermeister von EsensBild: DW/K. Domagala-Pereira

Die deutsche Vergangenheit war in den 1950ern noch kein Thema in Polizeischulen. Eilert Dieken kam problemlos durch die Entnazifizierung. In keinem der drei Verfahren verheimlicht er seinen Dienst in Polen. Er bekam die höchste Bewertung: "Keine Bedenken". Und konnte seine Polizeikarriere fortsetzen.

Das Kuvert

Bis 2013 wissen Diekens Töchter nichts über die Verbrechen, die ihr Vater während der deutschen Besetzung Polens verübt hat. Bis der Historiker Szpytma die älteste Tochter besucht. "Ich wollte ihr nicht alles erzählen," erinnert sich der Historiker. "Ich wusste auch nicht, wie sie reagieren würde, schließlich war sie schon ein älterer Mensch. Deshalb habe ich ein Kuvert vorbereitet, mit allem, was ich bisher über ihren Vater in Polen gefunden hatte."

Ein Mann im Mantel, der eine Brille und eine Hut trägt, stecht vor einer mit einer Figur bemalten Wand und spricht in ein Mikrofon
Der polnische Historiker Mateusz Szpytma spricht bei einer Veranstaltung in Warschau im Dezember 2017Bild: picture-alliance/dpa/PAP/B. Zborowski

Die Tochter berichtet Szpytma von einem fürsorglichen und liebevollen Vater, der in den Ferien nach Hause kam und von polnischen Freunden erzählte. Die Details der Arbeit in Landshut seien geheim gewesen. Nachgefragt habe die Tochter nie. Auch den Historiker fragt sie nichts, hat kein Interesse. Er lässt ihr den Umschlag da. "Sie nahm ihn, bedankte sich. Hat sie den Inhalt gelesen? Ich weiß es nicht", so Szpytma.

Die Lieblingstochter

Wir wollen es wissen und suchen 2019 nach der Tochter. Sie ist 90 und möchte nicht über die Vergangenheit reden. "Es ist zu emotional für sie", sagt ihr Sohn, der auch bei dem Treffen mit dem polnischen Historiker dabei war. "Sie spricht weiterhin in Superlativen von ihrem Vater, bekräftigt, dass er fürsorglich und gut war - und sie seine Lieblingstochter." Ihrem Sohn gab sie den Vornamen ihres Vaters: Eilert.

Der Enkel las vor einigen Jahren im Internet über das Verbrechen in Markowa und konfrontierte seine Mutter mit der Wahrheit über die Taten des Großvaters in Polen. Sie reagierte nicht - muss jedoch mit ihrer jüngeren Schwester Hannelore über das Thema gesprochen haben.

"Voller Scham"

"Mama hatte nur gute Erinnerungen an ihren Vater", schreibt Hannelores Tochter Ilona, die in den USA lebt und sich noch an "Opa Eilert mit der Pfeife" erinnert. Erst kurz vor ihrem Tod erzählte ihr die Mutter entsetzt, dass ihr Großvater für den Tod einer ganzen Familie verantwortlich sei. "Sie war sehr verstört und voller Scham", schreibt Ilona. Sie nimmt daher an, dass beide Töchter Diekens den Inhalt von Szpytmas Kuvert kannten.

Eilert Dieken hat noch mehr Verbrechen in Polen begangen - aber die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg interessierte sich erst in den 1960ern für ihn. In den 1970ern eröffnete dann die Staatsanwaltschaft Dortmund zwei Verfahren gegen den Mörder der Ulmas und andere deutsche Polizisten. Für eine Bestrafung war es zu spät: Eilert Dieken war im September 1960 gestorben.

Präzedenzfall in der katholischen Kirche

63 Jahre nach seinem Tod wird die katholische Kirche am kommenden Sonntag (10.09.2023), die ermordete Familie Ulma seligsprechen. Papst Franziskus hatte im Dezember den Märtyrertod des Ehepaares und ihrer Kinder anerkannt. Das Leben der Ulmas sei ein Vorbild für das Christentum, argumentierte die Vatikanbehörde für Heiligsprechungen. "Die Ulmas besuchten die Gemeinde. Die Entscheidung, den Juden zu helfen, wurde im Lichte des Gebots der Liebe und des Beispiels des barmherzigen Samariters erwogen, wie die Unterstreichungen in ihrer Bibel zeigen. Die Kinder wurden getauft und in den aktiven Glauben ihrer Eltern einbezogen", so die Behörde.

Aus zweierlei Gründen ist der Fall ein Novum in der katholischen Kirche: Es ist die erste Familie mit Kindern, die "zur Ehre der Altäre" erhoben wird, wie es in der Kirche heißt, und die erste Seligsprechung eines bereits geborenen, aber noch nicht getauften Kindes. Es war bekannt, dass Wiktoria zum Zeitpunkt ihres Todes im siebten Monat schwanger war. Nach der Ermordung der Familie, als die Leichen in Särge gelegt wurden, habe sich laut Zeugen herausgestellt, dass die Frau in den Geburtswehen gelegen habe. Durch das Martyrium der Eltern habe das eben erst geborene Kind die "Taufe des Blutes" erhalten, erklärte die vatikanische Heiligsprechungsbehörde.

Die Ulmas gelten in Polen als Symbol der Hilfe für Juden und des Märtyrertums während der deutschen Besatzung. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem verlieh der Familie 1995 den Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern", 2016 wurde in Markowa ein Familie-Ulma-Museum eröffnet. Seit 2018 ist der Jahrestag der Ermordung der Familie ein nationaler Gedenktag für die polnischen Judenretter.

Die Enkelin von Eilert Dicken ist berührt, als sie über die Seligsprechung der Familie Ulma erfährt. Die Taten ihres Großvaters bezeichnet sie als "unmenschlich" und "barbarisch". "Es tut mir sehr leid", sagt sie unter Tränen.

Der Text ist eine aktualisierte Fassung eines Beitrags aus der Reihe "Schuld ohne Sühne", einem Projekt von DW Polnisch und der polnischen Internet-Portale "Interia" und "Wirtualna Polska".

Kommentarbild Katarzyna Domagala-Pereira
Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.
Joanna Bercal Autorin DW Polnisch