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Reiches Deutschland, arme Menschen

18. Dezember 2023

Immer öfter rutschen Menschen in die Armut, manche verlieren gar ihre Wohnung. Dabei wollte die Regierung die Wohnungslosigkeit bis 2030 überwinden.

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Fahrrad eines Obdachlosen mit Schlafsack auf dem Gepäckträger vor der Tabor-Kirche in Berlin
Einmal die Woche zum Übernachten in die Berliner Tabor-Gemeinde - manche Menschen machen das schon seit 20 JahrenBild: Bettina Stehkämper/DW

Die ersten sind schon eine halbe Stunde früher gekommen. Jeden Mittwoch können obdachlose Menschen im Kirchenvorraum der Tabor-Gemeinde in Berlin essen, trinken, sich aufwärmen, die Toilette nutzen. Demnächst wollen sie von der Gemeinde auch eine warme Mahlzeit anbieten. Man riecht noch ein bisschen, dass hier in der Nacht zuvor sehr viele Menschen geschlafen haben. Seit 30 Jahren bietet die Kirche einmal in der Woche Schlafplätze für Obdachlose an. Durchschnittlich vierzig Menschen übernachten dann im Kirchenvorraum. Manchmal sind es auch sechzig. Sie bekommen etwas zu essen. Und zwei ehrenamtliche Ärzte kümmern sich um Wunden oder Krankheiten.

Sabine Albrecht ist die Pfarrerin der Tabor-Gemeinde. "Hierhin kommen auch die, die durch viele andere Netze fallen. Bei einigen ist der Zustand sehr desolat”, hat die Seelsorgerin beobachtet. Die Übernachtungsgäste seien andere als die, die ins Mittwochs-Café kämen, so die Pfarrerin. Viele kämen aus Osteuropa, manche arbeiteten sogar - in prekären Arbeitsverhältnissen. Etliche hätten Suchtprobleme, Gewalterfahrungen, psychische Erkrankungen. Albrecht berichtet von einem Mann, der "seit zwanzig Jahren hier schläft". Zwei der Gäste, wie die 59-Jährige sie konsequent nennt, hat sie auch bestattet.

Wie geht man mit so viel Elend um? "Das Helfersyndrom hilft nicht. Man braucht Härte und darf es nicht persönlich nehmen”, so Albrecht.

Frau mit kurzen Haaren, randloser Brille und buntem Schal steht vor einem Tisch in einem Raum der Tabor-Gemeinde
Einsatz für Menschen ohne Wohnung: Pfarrerin Sabine AlbrechtBild: Bettina Stehkämper/DW

Gemeint ist damit, auch mit aggressiven und ruppigen Menschen umgehen zu können. Dafür braucht es Leute wie Margot Moser, die von der ersten Stunde an die Übernachtung für Obdachlose mit organisierte. Mit zwanzig anderen Helfern ist die 79-Jährige heute immer noch aktiv dabei. Vielleicht weil sie selbst immer mit wenig Geld auskommen musste, will sie helfen, macht sich aber auch keine Illusionen. "Bei einigen ist es Dummheit: Sie ziehen mit jemandem zusammen, geben ihre Wohnung auf; dann ist Schluss - und sie stehen auf der Straße”, erklärt die aktive Gemeindehelferin ein häufiges Muster. Und wer heute seine Wohnung verliert, der findet so schnell keine neue.

In der Küche der Tabor-Gemeinde in Berlin sitzt eine Frau mit kurzem weißen Haar, roter Brille und roter Bluse an einem Tisch. Hinter ihr ist auf einer Arbeitsfläche ein großer Warmhaltebehälter für Kaffee zu sehen
Margot Moser: Ehrenamtlerin der ersten Stunde und nach 30 Jahren immer noch aktiv Bild: Bettina Stehkämper/DW

Viele Wohnungslose werden gar nicht erfasst

"Die Wohnungslosigkeit ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem", sagt Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) der DW. Für Rosenke der Hauptgrund: zu wenig bezahlbarer Wohnraum.

Die BAG W ist der bundesweite Dachverband der Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfen in Deutschland. Laut ihrer letzten Hochrechnung für 2022 waren in Deutschland 607.000 Menschen wohnungslos. Von ihnen lebten rund 50.000 ganz ohne Unterkunft auf der Straße. Das Statistische Bundesamt erfasst nur Menschen in Unterkünften und kommt dabei auf 372.060 Personen.

Der Unterschied zu den geringeren Zahlen des Statistischen Bundesamts liegt an der Zählweise. Die BAG W erfasst die Zahlen eines ganzen Jahres und nicht die eines Stichtages. Und sie zählt auch die verdeckte Wohnungslosigkeit mit. Also Menschen ohne eigene Wohnung, die bei Freunden, bei Familienmitgliedern oder bei Fremden auf der Couch schlafen.

Lager eines Obdachenlosen am Ballindamm in Hamburg vor einem Juweliergeschäft
Reichtum und Armut liegen in Deutschland manchmal sehr eng nebeneinanderBild: Achim Duwentäster/teamwork/IMAGO

Wohnungslosigkeit schon im Vorfeld verhindern

Für Werena Rosenke darf es so weit erst gar nicht kommen. "Prävention ist das Wichtigste. Wir müssen verhindern, dass Leute überhaupt ihre Wohnung verlieren. Viele wissen gar nicht, dass sie Wohngeld beantragen könnten oder wie sie einen Bürgergeldantrag stellen”, so Rosenke. Für die Kommunen wäre es preiswerter, wenn sie die Mietschulden übernehmen würden, anstatt oft viel zu teure Übernachtungen in Hotels oder anderen Unterkünften zu finanzieren, sagt sie.

Werena Rosenke fallen viele Maßnahmen ein, die schnell und gar nicht einmal so teuer der Wohnungslosigkeit vorbeugen könnten. Zum Beispiel Mitarbeiter in der Wohnungslosenhilfe zu finanzieren, die gezielt Akquise von Wohnungsbeständen bei privaten Vermietern und der Wohnungswirtschaft betreiben. Oder die Sanierung von Notunterkünften und ihre Umwandlung in Sozialwohnungen. Denn Sozialwohnungen sind mittlerweile wie Goldstaub: einfach selten.

Der Bau von Sozialwohnungen als A und O

Die Bundesregierung hatte als Ziel den Bau von jährlich 400.000 neuen Wohnungen angepeilt; davon sollten 100.000 Sozialwohnungen sein. Von diesen Zielen ist die Regierung allerdings meilenweit entfernt. Für Werena Rosenke war es ohnehin nur ein bescheidenes Ziel: Mit 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr - wie von der Ampelregierung versprochen - hätte dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen nicht ausreichend entgegengesteuert werden, sagt sie. Zusätzlich zu den Sozialwohnungen würden zudem weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen benötigt.

Eine Baustelle für Wohnungsbau bei Scharnhausen. Eingerüsteter Rohbau mit Kran vor blauem Himmel
Viel zu wenig, viel zu teuer: Wohnungsbau in DeutschlandBild: Bernd Weißbrod/dpa/picture alliance

"Entstanden sind in den letzten Jahren jeweils nur rund 25.000 neue sozialgebundene Wohnungen", beklagt die BAG W-Chefin. "Die können nicht einmal das Abschmelzen des Sozialwohnungsbestandes durch Auslaufen der Sozialbindungen kompensieren". Bei Sozialwohnungen fordert Rosenke feste Quoten für Wohnungslose. Denn die würden aufgrund von Vorurteilen als mögliche Mieter oft erst gar nicht zum Zug kommen.

Bei all diesen Punkten ist der Lenkungsausschuss Wohnungslosigkeit im Gespräch mit der Regierung. Die hat angekündigt, durch einen Aktionsplan bis 2030 die Wohnungslosigkeit in Deutschland beenden zu wollen. Im Frühjahr 2024 soll der Aktionsplan im Kabinett verabschiedet werden. Bis er dann von den Ländern und Kommunen umgesetzt wird, könnten allerdings Jahre vergehen.

Dabei könnten einige Änderungen in den Gesetzen schon jetzt helfen, meint Rosenke, und denkt dabei zum Beispiel an Kündigungen wegen Mietschulden. Wenn aufgelaufene Mietschulden beglichen sind, sollte nicht nur wie bislang die außergewöhnliche Kündigung unwirksam, sondern auch die ordentliche Kündigung verboten sein. Rosenke stellt jedoch fest: "Da fehlt der politische Wille”.

Zurück zur Tabor-Gemeinde. Es sind noch etwa zehn Menschen im Vorraum der Kirche. Im Flur hat sich ein Mann vor die Heizung gelegt. Pfarrerin Sabine Albrecht lächelt und sagt:” Das machen einige, um endlich wieder warm zu werden”. Zwei Männer lesen Bücher, vor sich die Brote und den Kaffee der Gemeinde. Sie sehen aus wie gepflegte, ältere Studenten. Sie fallen auch der Pfarrerin auf. "Immer häufiger kommen Leute hier ins Mittwochs-Café, da würde ich im Leben nicht darauf kommen, dass sie in Not oder obdachlos sind”.