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Musik

Castelluccis moderner Prometheus

11. September 2021

Regisseur Romeo Castellucci katapuliert den antiken Sagenhelden Prometheus ins 21. Jahrhundert: Ein verunglückter Mann kämpft sich ins Leben zurück.

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Silvio Jagarinec, ein Mann mit Prothesen steht in einem Raum, hinter ihm Gestalten in Motorrad-Kostümen, alles ist in Weiß gehalten
Darsteller Jagarinec als moderner PrometheusBild: Monika Rittershaus

Zunächst ein Blick in die griechische Mythologie: Prometheus (der Name bedeutet im Altgriechischen so viel wie "der Vorausdenkende") ist ein Titan, der gegen die absolute Herrschaft des Göttervaters Zeus rebelliert. Als er den Göttern das Feuer entwendet, um es den Menschen zu schenken, wird er dafür mit ewigen Qualen bestraft: In der Einöde des Kaukasus-Gebirges wird er an einen Felsen geschmiedet und ist so hilflos einem blutrünstigen Adler ausgeliefert. Täglich frisst das Tier von seiner Leber, die sich danach immer wieder erneuert.

Prometheus als Beethoven-Vermittler

Die Figur des gemarterten Übermenschen, der sich gegen die Obrigkeit aufbäumt, genoss in den revolutionären Zeiten Ludwig van Beethovens große Popularität. Nicht zuletzt deswegen suchte sich Beethoven das antike Sujet für sein Ballett "Die Geschöpfe des Prometheus" aus. 1801 in Wien uraufgeführt, bewies das Werk aber eine eher schwierige Beziehung Beethovens zum Theater. Bis heute wird "Prometheus" nur ganz selten aufgeführt.

Szene aus "Pavane für Prometheus" von Romeo Castellucci, acht Tänzerinnen und Hauptdarsteller mit Prothesen, weißes Hintergrund
Ein Bekenntnis fürs Leben: Szene aus "Pavane für Prometheus" von Romeo CastellucciBild: Monika Rittershaus

Für Romeo Castellucci, den berühmten italienischen Theatermacher, wurde aber ausgerechnet die Figur des Prometheus der Schlüssel zu Beethovens Schaffen. Denn sonst steht der Künstler nicht auf Promis - "und Beethoven zählt dazu", so Castellucci etwas ketzerisch im DW-Gespäch.

Eingeladen, für das Beethovenfest in Bonn ein Projekt frei nach dem namensgebenden Komponisten zu entwickeln, entschied sich Castellucci für das Prometheus-Material.

"An diesem Tag war der Gott nicht da…"

Für seine Neudeutung der Prometheus-Sage hat sich Castellucci einen Ort ausgesucht, an dem man sich ein Theaterprojekt eigentlich kaum vorstellen kann: das stillgelegte Viktoriabad im Zentrum von Bonn. Ein historischer, aber auch fast vergessener Ort mitten in der ehemaligen Bundeshauptstadt. "Manchmal braucht man eben einen so 'falschen‘ Ort', um die Kräfte des Theaters und die Vorstellungskraft der Zuschauer freizusetzen", so Castellucci. "Das ist ein Ort für Hardcore-Theater."

Romeo Castellucci
Regisseur Castellucci: Ein Theater-VisionärBild: Eva Castellucci

"Pavane für Prometheus" - so heißt das multimediale und genreübergreifende Projekt, das in seiner visuellen und emotionaler Kraft durchaus das Potenzial hat, zum zentralen Werk des Beethovenfestes 2021 zu avancieren. Zumal das Abschiedsfestival der Intendantin Nike Wagner unter dem Motto "Auferstehn, ja auferstehn" stattfindet.

Die zentrale Figur ist er: Ein moderner Prometheus - der 25-jährige Silvio Jagarinec. Ein ganz normaler junger Mann aus Fürth in Bayern, der passioniert American Football spielte und als Soldat Karriere machen wollte. 

Das ging gut bis zum 30. März 2018, einem Freitag - dem Tag, an dem, so der Prometheus-Monolog, "der Gott nicht da war". Jagarinec fuhr mit seinem hellgrünen Motorrad, Modell Kawasaki Ninja XZ6R, seinem Kindheitstraum, zu einem fröhlichen Abend im Freundeskreis. Es kam anders: Er verunglückte so schwer, dass er monatelang ums Überleben kämpfen musste, beide Beine wurden amputiert.

Eine Geschichte der Überwindung

Aber der gefallene Prometheus gibt nicht auf: Als sichtbares Ergebnis seines Kampfes um das "Feuer des Lebens" steht Silvio Jagarinec mit seinen Prothesen nun im sterilen weißen Raum, in den das Viktoriabad für die Aufführung verwandelt wurde, und erzählt dem Publikum seine Geschichte.

Seine nüchtern gefassten Erinnerungen an die Tragödie, das Nahtod-Erlebnis und den mühsamen Kampf zurück ins Leben verwebt Claudia Castellucci, Schwester und Co-Autorin des Regisseurs, mit einer freien Fassung der antiken Prometheus-Sage. "Mir war wichtig, dass es weder pathetisch noch sentimental klingt, vielmehr kalt und objektiv. Aber das ist eine Art der Kälte, die unter die Haut geht", so Romeo Castellucci. Tatsächlich bekamen die fünfzig Zuschauer, die pro Aufführung im Viktoriabad zugelassen wurden, kalte Füße und weiche Knie.

Szene aus der "Pavane für Prometheus" von Romeo Castellucci, acht Tänzerinnen und der Hauptdarsteller in weißen gewändern auf der weißen Bühne
Szene aus der "Pavane für Prometheus": der Kampf zurück ins Leben Bild: Monika Rittershaus

Mit von der Partie waren auch acht junge Tänzerinnen, die die Choreografin Gloria Dorliguzzo während der einstündigen Aufführung zu immer neuen Variationen einer Art ritualisierter Trauerzeremonie zusammenführte. In weiße Motorradkostüme gekleidet und mit weißen Helmen ausgerüstet, zelebrierten die Tänzerinnen mal das Leben, mal die Allmacht der Unterwelt.

Der Komponist Scott Gibbons steuerte eine Kollage aus realen Klängen bei - wie etwa ein Motorrad-Rattern. Das Finale versank im mächtigen Dröhnen einer Turbine mit der Aufschrift "Kawasaki XZ6R". Bei all dem Lärm waren Akkorde aus Beethovens "Pastorale" herauszuhören.

Man sah Silvio Jagarinec an, welche Überwindung es ihn kostete, vor dem Publikum zu stehen. "Aber diese Arbeit hat mich mental wachsen lassen, ich habe viel an Selbstbewusstsein gewonnen, mich auch körperlich verändert", berichtet er im DW-Gespräch. In seinem Bühnenmonolog stellt er sich selbst die Frage: "Werde ich mich je wieder schön finden?" Die Antwort ist ein klares Ja. Nach dem Projekt in Bonn will Jagarinec ein Studium im Bereich Rehabilitation beginnen.

Theaterproduktion in der Corona-Zeit

Auch die Produktion des Projektes "Pavane für Prometheus" war eine Geschichte der Überwindung. "Das war ein herausforderndes Projekt, allein schon aufgrund des Raumes", erzählt Daniela Ebert, die die Produktion für das Beethovenfest Bonn leitete. Seit 2018 reifte das Vorhaben.

Ein Falke fliegt durch einen weißen Raum
Auch ein Falke ist Bestandteil der InszenierungBild: Monika Rittershaus

"2019 trat Romeo Castellucci an uns mit der Idee heran, dass er gerne einen Darsteller hätte, der beide Beine verloren hat - und zwar unbedingt durch einen Sturz", erzählt Ebert. Nach unzähligen Kontakten mit Reha-Netzwerken und Selbsthilfegruppen deutschlandweit habe man Silvio Jagarinec gefunden - ein Glücksfall.

Jedes Detail hat bei Castellucci, dem großen Magier des Theaters, eine Bedeutung und lebt von der Präzision - ob ein Falke, der stellvertretend für den Adler aus der Prometheus- Sage "einfach so" ein paar Runden über das Becken dreht, oder die weißen Motorrad-Kostüme der Tänzerinnen (Detail am Rande: Sie mussten gefärbt werden, weil sie in Weiß  nicht erhältlich sind). 

"Pavane für Prometheus" heißt Romeo Castelluccis Stück. "Pavane ist der langweiligste Tanz überhaupt, weil er so langsam, so gleichmäßig ist", sagt er. Und meint es sicherlich nicht ernst: Seine Pavane steht für eine hochdramatische Erzählung mit Höhen und Tiefen. Worum geht es schlussendlich? Um das Aufbäumen, den Sieg gegen den Tod? Um Fokussierung auf das Wesentliche in der täglichen Flut der Bilder ("Wir fressen Bilder", so Castellucci im DW-Gespräch)? "Ich bin nicht dazu da, die Fragen zu beantworten. Meine Aufgabe als Theatermacher ist es eher, diese Fragen zu verdoppeln."