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PolitikBelarus

Schweiz: Belarus "Todesschwadron" Mitglied vor Gericht

Marta Sakavik
27. September 2023

Das Urteil gegen ein Mitglied der belarussischen "Todesschwadron" SOBR, die angeblich Lukaschenko-Gegner entführt hat, könnte wegweisend sein.

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Eine Skizze einer Gerichtsszene zeigt einen Angeklagten mit seiner Anwältin
Juri Garawski soll an der Entführung politischer Gegner von Präsident Lukaschenko beteiligt gewesen seinBild: Linda Graedel/KEYSTONE/picture alliance

"Wenn Sie ein hartes Urteil fällen, dann bin ich mir sicher, dass niemand mehr auf der Welt Verbrechen melden wird, die von einer Staatsmacht verübt wurden", sagte Juri Garawski in seinem Schlusswort eines vielbeachteten Prozesses, der am 28. September im schweizerischen St. Gallen zu Ende geht. Der 45-Jährige war vor fünf Jahren aus Belarus in die Schweiz geflohen und hatte zugegeben, 1999 als Teil einer "Todesschwadron" an der Entführung belarussischer Oppositionspolitiker beteiligt gewesen zu sein.

Die Schweizer Staatsanwaltschaft in St. Gallen untersuchte seine Geständnisse auf Grundlage des Weltrechtsprinzips, wonach das nationale Strafrecht bei besonders schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch auf Sachverhalte anwendbar ist, die keinen spezifischen Bezug zum Inland haben. Schließlich wurde gegen Garawski wegen zahlreicher Fälle Anklage erhoben, in denen es um das Verschwindenlassen von Menschen geht. Es ist das erste Mal, dass eine Person, die an der Entführung von Gegnern des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko beteiligt war, vor Gericht steht. Das Urteil soll am 28. September verkündet werden.

Was geschah Ende der 1990er Jahre?

Im Jahr 1999 sollten die zweiten Präsidentschaftswahlen in der Geschichte des unabhängigen Belarus stattfinden. Mit einem Referendum drei Jahre zuvor war es Lukaschenko jedoch gelungen, die Wahlen auf das Jahr 2001 zu verschieben. Bei der Volksbefragung hatte er vorgeschlagen, die Befugnisse des Präsidenten deutlich zu erweitern und die Beschränkungen der Amtszeiten aufzuheben. Ursprünglich sollte das Referendum keinen bindenden Charakter haben, doch trotz der Einwände des Verfassungsgerichts, das das Abstimmungsergebnis nicht anerkannte, wurden die Verfassungsänderungen von der Staatsmacht durchgesetzt.

Alexander Lukaschenko ist seit 1994 in Belarus an der Macht
Alexander Lukaschenko ist seit 1994 in Belarus an der MachtBild: ALEXANDER NEMENOV/AFP/Getty Images

Die Opposition, zu der damals viele ehemalige Weggefährten Lukaschenkos gehörten, lehnten den "Verfassungsputsch" ab. Sie versuchten, alternative Wahlen zu organisieren, um Lukaschenko auf legalem Wege von der Macht zu entfernen. Unter ihnen waren etwa der ehemalige Leiter des Zentralen Wahlkomitees, Viktor Gontschar, und der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko. Beide verschwanden 1999 spurlos.

General Juri Sacharenko hatte 1994 die Leitung des Innenministeriums übernommen, war aber nur ein Jahr später wieder entlassen worden. Er hatte Lukaschenkos Entscheidungen kritisiert und sich geweigert, dessen Befehle auszuführen, die er für unrechtmäßig hielt. Kurz vor seinem Verschwinden im Mai 1999 arbeitete Sacharenko an der Gründung einer Offiziersvereinigung aus ehemaligen und amtierenden Sicherheitsvertretern. Darin sah die Staatsmacht womöglich eine Bedrohung.

Juri Sacharenko bei einer oppositionellen Kundgebung in Minsk
Juri Sacharenko bei einer oppositionellen Kundgebung in MinskBild: Privat

Viktor Gontschar und der mit ihm befreundete Geschäftsmann Anatoli Krassowski verschwanden im September desselben Jahres. Lange war unklar, was mit ihnen geschah. Unabhängige Medien veröffentlichten im Jahr 2001 Dokumente, die auf eine mögliche Beteiligung des Kommandeurs einer Sondereinheit der schnellen Eingreiftruppe des Innenministeriums (SOBR), Dmitri Pawlitschenko hinwiesen. Auch andere hohe Funktionäre des belarussischen Staatsapparates sollen involviert gewesen sein.

Die Fakten hatten zwei ehemalige Ermittler der belarussischen Staatsanwaltschaft  zusammengetragen, die später in die USA fliehen mussten. Zu dem gleichen Ergebnis kam auch der Sonderberichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), Christos Pourgourides. Die belarussischen Behörden hatten auf die Untersuchungen nicht reagiert.

Juri Garawski kontaktiert die DW

Erst 20 Jahre nach diesen Ereignissen meldete sich einer ihrer mutmaßlichen Teilnehmer zu Wort: Juri Garawski, ein ehemaliger SOBR-Angehöriger. Er selbst kontaktierte 2019 die Deutsche Welle und sprach ausführlich über seine Beteiligung an der Entführung und anschließenden Ermordung von Lukaschenkos Hauptgegnern. Garawski zufolge wurde Juri Sacharenko von SOBR-Kommandeur Pawlitschenko und seinen Kämpfern in der Nähe seines Hauses entführt und in einem nahegelegenen Waldstück erschossen. Danach sei die die Leiche in einem Krematorium am Stadtrand von Minsk verbrannt worden. Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski seien in der Nähe eines öffentlichen Badehauses entführt und ebenfalls in einem Wald erschossen worden. Ihre Leichen seien in einem zuvor ausgehobenen Grab versteckt worden.

Juri Garawski beim Gespräch mit der DW im Jahr 2019
Juri Garawski beim Gespräch mit der DW im Jahr 2019Bild: DW

Garawskis im Dezember 2019 veröffentlichtes DW-Interview bildete die Grundlage für den von der Menschenrechtsorganisation Trial International initiierten Fall, sagt deren Rechtsberater Benoit Meystre. "Juri Garawski erwähnte, dass er in den Alpen war. Als wir recherchierten und feststellten, dass er in St. Gallen lebt, sahen wir die Chance, eine Klage einzureichen", sagt Meystre der DW. Trial International ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die dafür sorgen will, dass internationale Verbrechen nicht ungestraft bleiben und Opfern Gerechtigkeit geschieht.

Drei Klagen gegen Juri Garawski

Menschenrechtsaktivisten sammelten weiteres Material und kontaktierten die Angehörigen der verschwundenen Politiker. Daraufhin wurden drei Klagen bei der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen eingereicht - von Elena Sacharenko, der Tochter des ehemaligen Innenministers, von Valeria Krassowskaja, der Tochter des verschwundenen Geschäftsmannes, sowie von Trial International und seinen Partnern, der International Federation for Human Rights und dem belarussischen Menschenrechtszentrum "Wjasna" (Frühling).

Jelena Sacharenko, Tochter des verschwundenen belarussischen Innenministers, in St. Gallen
Elena Sacharenko, Tochter des verschwundenen belarussischen Innenministers, in St. GallenBild: DW

Die Untersuchung des Falles dauerte etwas mehr als ein Jahr. Schließlich erhob der Staatsanwalt Anklage gegen Juri Garawski. Während des Prozesses bestätigte Garawski, dass er an den Entführungen von Lukaschenkos Gegnern beteiligt war, bestritt jedoch seine Beteiligung an deren Ermordung. Der Richter stellte viele Ungereimtheiten in seinen Äußerungen gegenüber den Migrationsbehörden, während der Befragung durch den Staatsanwalt und bei der Gerichtsverhandlung selbst fest. Garawski begründete dies mit einer "unzureichenden Übersetzung" vom Russischen ins Deutsche. Dennoch hielt der Staatsanwalt an seiner Anklage fest und forderte für den Angeklagten drei Jahre Gefängnis, davon zwei auf Bewährung. Dessen Anwältin bestand darauf, Garawski sollte für unschuldig befunden werden, weil das Schweizer Recht laut ihrer Ansicht in diesem Fall auf den Angeklagten nicht anwendbar ist.

Was würde ein Urteil bedeuten?

"Der Tatbestand des Artikels 185bis des schweizerischen Strafgesetzbuches bezieht sich explizit darauf, dass der Täter, der die Personen verschwinden lässt, im Auftrag eines Staates oder zumindest in dessen Billigung handelt", erklärt Leo-Phillip Menzel, Sprecher der Staatsanwaltschaft St. Gallen, gegenüber der DW. Auch Benoit Meystre von Trial International betont, dass "der Auftraggeber dieses Verbrechens die Regierung ist", so dass diese zumindest indirekt mit auf der Anklagebank sitzt.

"Das festgelegte Strafmaß ist weniger wichtig als die Feststellung, wer hinter diesem Fall steckt und wer für die Verbrechen in meiner Heimat verantwortlich ist", sagt auch Elena Sacharenko, die Tochter des verschwundenen Innenministers Juri Sacharenko, der DW. Ihrer Meinung nach sei die wichtigste Funktion dieses Prozess, dass er die Geschehnisse von 1999 dokumentiere. Somit könne er zur Grundlage für künftige Prozesse nicht nur gegen die unmittelbaren Täter werden, sondern auch gegen ihre Auftraggeber. "Es geht um meinen Vater. Er wäre sehr stolz darauf, wenn sein Tod nicht vergeblich gewesen wäre."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk