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Stasi-Akten: (k)ein Schlussstrich

17. Juni 2021

Sie ist ein Erbe der friedlichen Revolution in der DDR: die Stasi-Unterlagen-Behörde. Nun verschwindet ihr Name, aber ihr Geist soll woanders weiterleben.

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Symbolbild - Aktenschränke
Bild: picture-alliance/dpa

Diese Zahl ist schon beeindruckend, geradezu gigantisch: 7.353.885 Anträge auf Einsicht in die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wurden seit 1991 gestellt. Fast die Hälfte (46 Prozent) stammt von Menschen, die wissen wollten, was die im Volksmund "Stasi" genannte DDR-Geheimpolizei über sie persönlich wusste. Über ihr Privatleben, ihre politische Einstellung, über Fluchtpläne. All das und vieles mehr steht in den Spitzel-Berichten, die sich in 40 Jahren DDR auf eine Länge von nur schwer fassbaren 111 Akten-Kilometern summierten.

DDR-Bürgerrechtler verhinderten in der friedlichen Revolution 1989/90, dass dieser Stasi-Nachlass vernichtet wurde. Ihrem unermüdlichen Engagement ist – trotz starker Bedenken im Westen – auch die Öffnung der Akten zu verdanken. Dafür wurde im wiedervereinten Deutschland extra ein neues Amt geschaffen. Wobei der Name alles andere als eingängig klingt: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Umgangssprachlich hat sich das Wort "Stasi-Unterlagen-Behörde" eingebürgert.

Mauerfall-Jubiläen lösen stärkeres Interesse aus

Als letzter Chef geht der frühere DDR-Bürgerrechtler Roland Jahn in die Geschichte ein, denn am 17. Juni verliert diese historisch einmalige Institution ihre Eigenständigkeit. Die Akten landen 31 Jahre nach ihrer Rettung im Bundesarchiv. Das hat der Deutsche Bundestag im November 2020 nach jahrelanger Diskussion entschieden. Damit war klar, dass der 15. Tätigkeitsbericht, den Jahn vorlegte, zugleich seine finale Bilanz sein würde. 

Vorstellung 15. Tätigkeitsbericht der Stasi-Unterlagen-Behörde Roland Jahn
Der letzte Tätigkeitsbericht der Stasi-Unterlagen-Behörde in den Händen des letzten Chefs, Roland JahnBild: Annegret Hilse/Reuters/Pool/dpa/picture alliance

Mit 23.686 Erstanträgen auf Akteneinsicht wurde 2020 der Vorjahreswert (35.554) deutlich unterschritten. Allerdings dürfte die im langjährigen Trend vergleichsweise hohe Zahl für 2019 auch an einem Jubiläum gelegen haben: dem 30. Jahrestag des Mauerfalls. Das gleiche Phänomen ließ sich beim 25-jährigen Mauerfall-Jubiläum beobachten. Anscheinend löst der dann auch medial besonders starke Rückblick auf dieses historische Ereignis bei vielen das Bedürfnis aus, sich wieder intensiver mit der eigenen Vergangenheit zu befassen.

Dabei spielte vor allem für Menschen aus der DDR die Stasi eine oft schmerzhafte Rolle. "Manche brauchen einen langen Anlauf, um sich mit dieser eigenen Lebensgeschichte zu beschäftigen", sagte Jahn. Unter den Anträgen seien inzwischen 20 Prozent von Angehörigen Verstorbener, die sich mit dem Leben ihrer Eltern und Großeltern im geteilten Deutschland beschäftigen wollten. 

Anträge auf Stasi-Akteneinsicht kommen aus aller Welt

Dass die Stasi weit mehr als ein reines DDR-Thema war und ist, lässt sich aus anderen Zahlen herauslesen. So stammen weit über 400.000 Anträge auf Akteneinsicht aus westdeutschen Bundesländern; das sind mehr als 12 Prozent. Das weltweite Interesse an den Stasi-Akten spiegelt die Statistik über Anträge aus dem Ausland wider: gut 21.000 aus 100 Ländern. Wer sich dahinter verbirgt, darüber hat die Stasi-Unterlagen-Behörde keine Erkenntnisse. Dass es auch Menschen mit einer DDR-Vergangenheit sein könnten, ist eine naheliegende Vermutung. Viele von ihnen sind vom Osten in den Westen Deutschlands gezogen oder ausgewandert.    

Infografik Erstanträge auf Stasikaten-Einsicht aus dem Ausland DE

Die Stasi-Unterlagen-Behörde bleibt als weltweit bestaunte Erfolgsgeschichte in Erinnerung. Sie diente vielen Ländern in Osteuropa, aber auch in Lateinamerika und im Nahen Osten als Vorbild für den Umgang mit der eigenen Diktatur-Vergangenheit. Dank der geöffneten Akten können Täter entdeckt und rechtlich belangt werden. Opfer finden im besten Fall Beweise dafür, wie ihnen aus politischen Gründen Berufswege versperrt wurden. So ist von Fall zu Fall auch Wiedergutmachung möglich - wenigstens finanziell.

Überprüfung auf Stasi-Vergangenheit weiter möglich

Daran wird sich auch nach der Eingliederung in das Bundesarchiv nichts ändern, denn die Akten bleiben weiter zugänglich. Für die vielen Opfer von DDR-Willkür ebenso wie für Wissenschaftler und Journalisten. Auch die Überprüfung von Personal im Öffentlichen Dienst auf eine mögliche Stasi-Vergangenheit ist noch bis 2030 möglich. Das entsprechende Gesetz hat der Deutsche Bundestag schon 2019 novelliert. 

Spektakuläre Enthüllungen über Stasi-Verstrickungen gibt es nur noch selten. Das war vor allem im ersten Jahrzehnt der Behörde unter Leitung des DDR-Bürgerrechtlers Joachim Gauck noch anders. Auf den späteren Bundespräsidenten (2012–2017) folgte zur Jahrtausendwende Marianne Birthler, die ebenfalls in der ostdeutschen Opposition aktiv gewesen war. So wie der seit 2011 amtierende Roland Jahn, den das DDR-Regime 1983 gegen seinen Willen ausgebürgert und in den Westen abgeschoben hat.  

Bildkombo Roland Jahn Marianne Birthler und Joachim Gauck
Sie leiteten die Stasi-Unterlagen-Behörde: Roland Jahn, Marianne Birthler und Joachim Gauck (v.l.n.r.)

Jahns Vorgängerin hätte sich gewünscht, die Stasi-Unterlagen-Behörde in ihrer bisherigen Form zu erhalten. Auch der frühere Pressesprecher des Hauses, Christian Booß, hält die Eingliederung in das Bundesarchiv für einen Fehler. "Die Stasi-Forschung wurde faktisch abgewickelt", sagte der Historiker auf DW-Anfrage. Gegenteilige Behauptungen seien ein "Etikettenschwindel". Für ein gravierendes Versäumnis hält er, dass die computergestützte Rekonstruktion zerrissener Stasi-Akten "faktisch tot" sei. Ein entsprechender Auftrag des Bundestages sei nicht umgesetzt worden. Jahn sieht das anders. "Unser Wunsch ist, dass es weitergeht." Er räumt allerdings technische Probleme ein. Ob die jemals gelöst werden, scheint ungewiss zu sein.

Booß leitet inzwischen das "Bürgerkomitee 15. Januar". Ein Verein, der sich die Aufarbeitung und den Erhalt der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin zum Ziel gesetzt hat. Das Bundesarchiv als künftiger Verwalter der Stasi-Akten tritt aus seiner Sicht eine "komplizierte Erbschaft" an. Roland Jahn hingegen hält Befürchtungen, mit dem Ende der Behörde könnte ein endgültiger Schlussstrich gezogen werden, für unbegründet: "Die Sichtbarkeit des Stasi-Unterlagen-Archivs mit seiner internationalen Vorbildfunktion bleibt auch nach der Integration in das Bundesarchiv erhalten."

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Dass Jahns Amtszeit an einem 17. Juni endet, ist kein Zufall. Das Datum steht für den Volksaufstand 1953 in der DDR, der mit Unterstützung sowjetischer Soldaten niedergeschlagen wurde. Die zweite Revolution im geteilten Deutschland war dann 1989/90 erfolgreich. Sie bedeutete das Ende der kommunistischen Diktatur und wurde mit der Wiedervereinigung gekrönt.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland