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Tour de France: "Die Gefahr ist immer da"

30. Juni 2023

Nach dem Tod von Gino Mäder diskutiert der Radsport vor dem Start zur Tour de France in Bilbao über die Sicherheit der Fahrer. Routinier John Degenkolb sieht im DW-Interview auch die Athleten selbst in der Verantwortung.

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 John Degenkolb grüßt bei der Belgien-Rundfahrt 2023 vom Podium (Foto: dpa)
Der 34-jährige John Degenkolb geht in seine neunte Tour de France und fordert von Veranstaltern, Verbänden, aber auch Fahrern mehr Einsatz für die Sicherheit im Rennen.Bild: Roth/picture alliance

Ein Thema prägt viele Gespräche vor dem Start der 110. Tour de France, die am Wochenende in Bilbao beginnt: Der tragische Tod des Schweizer Radprofis Gino Mäder bei der Tour de Suisse hat viele Fahrer erschüttert und nachdenklich gemacht. Zugleich hat der Unfall auf einer Abfahrt eine Sicherheitsdebatte ausgelöst: Wie viel Risiko gehört zum Radsport? Muss die Streckenplanung verändert und mehr in die Sicherheit der Fahrer investiert werden? Und wenn ja, wie? 

Fragen, auf die es noch wenige Antworten gibt. Radprofi und Familienvater John Degenkolb (Team DSM-Firmenich) macht sich in seiner 13. Saison als Radprofi so seine Gedanken um sein Metier, die Tour und die Verantwortung der Fahrer. 

"Es ist halt einer von uns"

DW: John Degenkolb, wo waren Sie, als Sie vom Tod ihres Kollegen Gino Mäder bei der Tour de Suisse erfahren haben, und was ging Ihnen dabei durch den Kopf? 

John Degenkolb: Da war ich gerade bei der Belgien - Rundfahrt. Es war der Tag, an dem bei uns das Zeitfahren auf dem Programm stand. Wir saßen gerade alle zusammen im Teambus und haben dann von der Nachricht erfahren und die Stimmung ist schlagartig umgeschlagen. Es war eine Tragödie, die da passiert ist, die betroffen macht, Trauer auslöst, auch bei Leuten, wie mir, die nicht mit vor Ort waren oder die Gino nicht eng kannten. Aber es ist halt einer von uns, aus dem Peloton. Und das bleibt im Kopf. 

Polizeiabsperrung der Unfallstelle, an der der Schweizer Gino Mäder zu Tode stürzte. (Foto: dpa)
Bei knapp 100 Km/h in der Abfahrt vom Albula-Pass kam Gino Mäder von der Straße ab und verunglückte. Sein Unfall löste eine Sicherheitsdebatte im Radsport aus.Bild: Gian Ehrenzeller/KEYSTONE/picture alliance

Mäders Sturz löste eine Sicherheitsdebatte im Radsport aus. Er ereignete sich auf einer Hochgeschwindigkeitsabfahrt kurz vor dem Ziel. Ein tragischer Rennunfall oder sollten Ankünfte besser vermieden werden? 

Man sollte davon absehen, mit dem Finger auf einen zu zeigen und zu sagen, du oder ihr seid dafür verantwortlich für diesen Unfall. Ich glaube, viel wichtiger ist es, dass wir, dass wir versuchen, die Stakeholder im Radsport, also die UCI, die Rennveranstalter, die Teams, die Fahrergewerkschaft, an einen Tisch zu bekommen, um an gemeinsamen Konzepten für die Sicherheit zu arbeiten. Es braucht klare Regularien, die besagen: So müssen sichere Rennstrecken aussehen, soweit darf die Risikobereitschaft der Rennfahrer gehen und so gut und sicher muss das Equipment sein. Das ist eigentlich das, was ich aktuell am meisten bemängeln muss, dass dort zu wenig getan wird. Nur auf den Streckenverlauf einer Etappe zu schauen, ist, glaube ich, komplett der falsche Ansatzpunkt, um langfristig den Radsport sicherer zu machen. Die Sicherheit ist in unser aller Verantwortung und dafür müssen wir alle an einem Strang ziehen, Fahrer, Gewerkschaft, Teams, Verbände und Veranstalter.

Dennoch haben manche ihrer Rennfahrerkollegen die Strecke bei der Tour de Suisse mit einer Abfahrt kurz vor dem Ziel als zu gefährlich kritisiert. Auch bei der Tour gibt es Etappenankünfte nach Abfahrten. Eine besonders anspruchsvolle und rasante führt auf der 14. Etappe vom Col de Joux Plane steil hinab in den Skiort Morzine. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf diese Etappe? 

Ich will es mir hier nicht so einfach machen und sagen, nur der Streckenverlauf ist dafür verantwortlich, dass so etwas passieren kann. Die Gefahr ist immer da und egal, ob eine Abfahrt jetzt wirklich direkt vor der Zielankunft ist oder ob sie in der Mitte der Etappe liegt: Wir sind ein Outdoorsport, der in den Bergen stattfindet, und da muss man eben zwangsläufig - wenn man das Spektakel am Berg haben will - hoch, aber auch herunterfahren. Wir Profis sind das gewohnt und haben die nötige Erfahrung. 

"Die Fahrer tragen natürlich auch ihren Teil dazu bei"

Die Fahrer selbst sorgen durch eine teilweise riskante Fahrweise insbesondere in der ersten Tourwoche für einige Stürze. Wie viel Verantwortung tragen die Fahrer selbst für die Sicherheit?

Die Fahrer tragen natürlich auch ihren Teil dazu bei. Das muss man auch klar sagen und deswegen finde ich es einfach nicht fair, dann nur in eine Richtung zu zeigen. Stattdessen müssen wir gemeinsam überlegen, wie kann man die zusätzliche Gefahr, die durch Risikobereitschaft und riskante Manöver entsteht, minimieren? 

Beim Rennen Paris-Roubaix stürzt John Degenkolb auf dem Kopfsteinpflaster (Foto: dpa)
Stürze gehören zum Radsport. Das musste Degenkolb (l.) im Frühjahr einmal mehr leidvoll erfahren, als ihn eine Kollision mit Mathieu van der Poel (2.v.l.) die Siegchance bei Paris-Roubaix kostete.Bild: Pool Bernard Papon/dpa/Belga/picture alliance

Ihr ehemaliger Teamkollege Marcel Kittel brachte kürzlich Airbags für die Fahrer ins Spiel. Die gibt es bereits, haben die Form von Schals und dürften weder besonders aerodynamisch noch an heißen Tagen angenehm zu tragen sein. Wie denken Sie darüber? 

Grundsätzlich sind das alles Ideen, die dazu beitragen können, den Radsport sicherer zu machen. Ich will nicht ausschließen, dass so etwas in Frage kommt. Das müsste man testen. Und genau für solche Schritte wäre eben ein Gremium gut, in dem alle Parteien an einem Tisch sitzen und beschließen können, dass man sowas mal ausprobiert.

Sie haben während ihrer inzwischen langen Karriere ja viele Fortschritte im Radsport erlebt. Das Material hat sich gewaltig weiterentwickelt in den letzten Jahren. Rad und Bekleidung sind aerodynamischer geworden, die Reifen haben geringere Rollwiderstände, Scheibenbremsen erlauben späteres Bremsen und das Training wurde optimiert. Das alles hat dazu geführt, dass der Radsport messbar schneller geworden ist - zu schnell?

Da hat sich viel verändert hat, gerade eben auch durch den Schritt von den Felgenbremsen zu den Scheibenbremsen. Das hat definitiv zu höheren Geschwindigkeiten in Abfahrten und vor Kurven geführt. Zudem hat so gut wie jeder Rennfahrer mittlerweile den Streckenverlauf auf seinem Radcomputer und kann so vor der Kurve sehen, wie genau diese verläuft und wo man nicht anbremsen muss. So geht man mit mehr Selbstvertrauen in die Kurve und das führt natürlich dazu, dass man schneller wird. Aber die Geschwindigkeit ist nicht der alleinige Grund, warum es gefährlicher wird.

John Degenkolb ist seit 2011 Radprofi und geht in seine neunte Tour de France. Der Sieger von Mailand–Sanremo und Paris-Roubaix (beide im Jahr 2015) gilt als einer der Wortführer im Peloton und ist in seinem Team DSM-Firmenich Mentor für jüngere Fahrer. Er gewann bereits bei allen drei Landesrundfahrten (Tour, Giro und Vuelta) Etappen und gilt als Spezialist für das Kopfsteinpflaster.