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PolitikUkraine

Ukrainische Luftabwehr: Solange der Vorrat reicht

Oleksandr Kunyzkyj | Roman Goncharenko
4. Januar 2024

Zum Jahreswechsel hat Russland die Ukraine besonders massiv mit Drohnen und Raketen angegriffen. Die ukrainische Luftabwehr schoss die meisten Ziele ab. Sie hat jedoch eine entscheidende Schwachstelle.

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Ukrainische Luftabwehr bei Kiew, Oktober 2023
Ukrainische Luftabwehr bei Kiew, Oktober 2023Bild: Anatolii Stepanov/AFP/Getty Images

Monatelang warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Seleneskyj vor massiven russischen Luftangriffen im Winter. Bereits im Spätherbst setzte Russland immer mehr Drohnen ein, bis dann am 29. Dezember die bisher größte Attacke seit dem russischen Einmarsch kam - mit mehr als 100 unterschiedlichen Raketen und ganzen Drohnen-Schwärmen.

Rund 30 Menschen starben allein in Kiew. Der Dezember war mit dem Einsatz von rund 700 Drohnen ein Rekordmonat. Ziel war nicht nur die Hauptstadt, sondern auch die Großstädte Charkiw, Dnipro, Odesa, Cherson und Lwiw.

Kurz vor dem Jahreswechsel griff die Ukraine die russische Schwarzmeerflotte auf der annektierten Krim an und traf ein Landungsschiff. Auch Ziele in der russischen Stadt Belgorod nahe der ukrainischen Grenze wurden mehrmals angegriffen, es starben nach russischen Angaben mehr als zwei Dutzend Menschen.

Ob es einen Zusammenhang gibt, ob der russische Angriff Ende Dezember eine Art Vergeltung war, ist unklar. Fakt ist, dass Russland bei Luftangriffen der Ukraine deutlich überlegen ist, weil es über mehr Waffen verfügt. Weitere Angriffe folgten in den ersten Januartagen.

10 Sekunden, um eine Drohne zu treffen

Die Zahl der ukrainischen Opfer hätte viel größer sein können, doch die Luftabwehr konnte die meisten Raketen und Drohnen abschießen. Auch die modernsten russischen Hyperschallraketen vom Typ "Kinschal" ("Dolch") wurden nach ukrainischen Angaben abgefangen.

Folgen des russischen Luftangriffs auf Kiew, 29. Dezember 2023
Folgen des russischen Luftangriffs auf Kiew, 29. Dezember 2023 Bild: Valentyn Ogirenko/REUTERS

Die Ukraine muss sowohl ihre Truppen an der mehr als 1000 Kilometer langen Front als auch militärische und zivile Objekte tief im Landesinneren schützen und geht deshalb sparsam vor: Die teureren westlichen Luftabwehrsysteme werden meist nur gegen russische Raketen im Landesinneren eingesetzt. Die Jagd auf die billigen iranischen Drohnen vom Typ "Shahed 136" machen unter anderem die von Deutschland gelieferten "Gepard"-Flakpanzer.

Auch sogenannte mobile Gruppen kommen zum Einsatz: Das sind zumeist ukrainische Soldaten auf Pick-Ups, bewaffnet mit leichten tragbaren Luftabwehrsystemen oder gar mit Maschinengewehren.

"Wenn eine "Shahed" vorbeifliegt, hat eine mobile Gruppe zehn Sekunden, um sie zu finden und mit einer schultergestützten Kurzstrecken-Luft-Boden-Rakete zu treffen", erklärte Jurij Ihnat, Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, gegenüber der DW.

Wie auch bei anderen Waffen verfügt die Ukraine über eine Mischung aus sowjetischen und westlichen Luftabwehrsystemen. Westliche Partner schicken sowohl alte, als auch moderne und leistungsfähige Einheiten, darunter US-amerikanische "Patriots" und deutsche IRIS-T. Nach offiziellen Angaben verfügt Kiew über jeweils drei Batterien dieser Waffen, weitere sollen kommen. 

Große Abhängigkeit vom Westen 

Bei der Luftabwehr ist die Ukraine dank westlicher Unterstützung besonders stark. Gleichzeitig ist jedoch auch eine große Schwachstelle, denn alle Systeme haben eines gemeinsam: Die dafür notwendigen Raketen sind rar.

Sogar sowjetische Munition werde im Westen, etwa in Bulgarien und der Slowakei, beschafft, sagt der Luftwaffensprecher Ihnat: "Wir produzieren heute keine Munition für die Luftabwehr. Große Mengen werden benötigt, um Raketen und Drohnen abzuschießen."

Das deutsche IRIS-T-Flugabwehrsystem
Das deutsche IRIS-T-FlugabwehrsystemBild: Air Force Ukraine

Ein weiteres Problem: Moderne westliche Raketen wie etwa für "Patriot" sind teuer, komplex und werden nur langsam produziert. Außerdem kommt momentan kaum noch Hilfe aus den USA, wo Republikaner im Kongress ein weiteres Milliarden-Hilfspaket blockieren. Die ukrainischen Streitkräfte versuchen, eigene Entwicklungen voranzutreiben, doch das dauert.   

Wie viel Luftabwehrraketen die Ukraine noch zur Verfügung hat, um neue russische Angriffe abzuwehren, ist ein Geheimnis. Die jüngsten Einsätze bieten keinen Grund für die Annahme, die Ukraine rationiere sie, sagte der ukrainische Militärexperte Olexandr Musijenko in einem DW-Gespräch. Der Bedarf sei jedoch noch nicht gedeckt.

Für mobile Gruppen sei gerade genug Munition da, "um den nächsten heftigen Angriffen standzuhalten", sagte der ukrainische General Serhij Najew am Mittwoch gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Mittel- bis langfristig werde man mehr Nachschub brauchen.   

Experte: Weitere Großangriffe kommen 

Momentan schieße die Ukraine rund 85 Prozent der russischen Raketen und Drohnen ab, sagte unlängst der Befehlshaber der ukrainische Luftwaffe, Mykola Oleschtschuk. Westliche Experten wie Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) verweisen auf Unterschiede je nach Art des Angriffs. Die Abschussquote sei höher bei einzelnen Angriffen und niedriger - etwa 70 Prozent - bei massiven Angriffen, sagte Gressel der DW.  

In den Sommer- und Herbstmonaten schien es, als wolle Moskau die besonders teureren Raketen sparen und seltener einsetzen. Nach Schätzungen ukrainischer Geheimdienste könne Russland insgesamt rund 100 Raketen diverser Typen monatlich produzieren, doch diese Zahl dürfte steigen. Auch die russische Drohnenproduktion wird ausgebaut.

Nichts deutet darauf hin, dass Luftangriffe auf die Ukraine seltener werden. Der Experte Musijenko glaubt, dass demnächst ein bis drei weitere Großangriffe wie zuletzt bevorstehen.