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Literatur

Uwe Tellkamp: "Der Turm"

Sabine Peschel
9. Oktober 2018

Mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, in viele Sprachen übersetzt: UweTellkamps monumentales Werk hat im Dresdner Bürgertum der späten DDR eine verschwundene Welt wiederbelebt: ein großer Gesellschaftsroman.

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Uwe Tellkamp, Schriftsteller
Uwe Tellkamp 2012 bei der FilmpremiereBild: Imago/R. Michael

Möglicherweise trifft der Schriftsteller Uwe Tellkamp, der seit 2009 wieder in Dresden lebt, manchmal auf Touristengruppen der Stadtteilführungen, die auf den Spuren seines Romans "Der Turm" das Villenviertel "Weißer Hirsch" durchstreifen. Vielleicht freut es den Autor dann, dass er mit seinem Buch nachweislich die Besucherzahl seiner Heimatstadt erhöht hat.

Die Erkundungen beginnen an der Standseilbahn, führen vorbei am Institut Manfred Baron von Ardennes, über die Wolfshügelstraße und den Rissweg bis zur Kakadu-Bar und zum Lahmannschen Sanatorium. Die Wolfsleite, das Institut von Baron Ludwig von Arbogast, die Rißleite mit der Bäckerei Walther, die Paradiesvogel-Bar - die Ortsnamen aus Tellkamps Roman sind unschwer zu entschlüsseln.

"Der Turm" von Uwe Tellkamp

Ein Countdown über sieben Jahre

Hier in diesem wohlsituierten Villenviertel lebte zu DDR-Zeiten das Dresdner Bildungsbürgertum, jene privilegierte Schicht, die es im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Und hier wuchs Uwe Tellkamp auf, nachdem es seinem Vater, einem Arzt, gelungen war, den Plattenbau seiner frühen Kindheit gegen eine der Villen über der Stadt einzutauschen.

Tellkamps fast tausendseitiger Roman, für den er im Erscheinungsjahr 2008 den Deutschen Buchpreis erhielt, trägt den Untertitel "Geschichte aus einem versunkenen Land". Wie Heimito von Doderers noch umfangreicherer Wien-Roman "Die Dämonen" läuft seine Erzählung auf ein Datum zu: den 9. November 1989. Ein Countdown über sieben Jahre, der mit den Worten endet:

"... aber dann auf einmal ... schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, 'Deutschland einig Vaterland', schlugen ans Brandenburger Tor:"

Uwe Tellkamp
Gute Zeiten: Der Autor mit seiner Verlegerin (li: Ulla Unseld-Berkewicz), bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2008Bild: picture-alliance

Ein Schlüsselroman der späten DDR

Der Roman setzt kurz nach Breschnews Tod 1982 ein. Ausgreifend, weit verzweigt beschwört Tellkamp die Deutsche Demokratische Republik (DDR) in ihrer Spätphase herauf. Im Mittelpunkt seiner Erzählung stehen die Bewohner des Dresdner Turmstraßenviertels, Intellektuelle, Chirurgen, Verlagslektoren, Kombinatsdirektoren, Rechtsanwälte. Der englischen Erstausgabe ist eine erklärende Namensliste nachgestellt, allerdings nur die wichtigsten 85 Figuren. Der deutschen liegt immerhin ein hübsches Lesezeichen bei, das "die Bewohner des Turms" in ihren verschiedenen Villen gruppiert.

Christian Hoffmann wohnt mit seinen Eltern, dem Chirurgen Richard und der Krankenschwester Anne, in "Haus Karavelle", sein Lieblingsonkel, der Lektor Meno Rohde, im Tausendaugenhaus. Sie sind die zentralen Figuren des Romans, dessen Personal in realen, leicht zu identifizierenden Bekanntheiten jener Zeit seine Vorbilder fand. Bei Christian lassen sich biografische Übereinstimmungen mit dem Autor feststellen, und tatsächlich hat Tellkamp seinem Schlüsselroman scherzhaft zu mehr als einem Drittel einen autobiografischen Hintergrund attestiert.

Dampfer vor Dresdner Villenviertel
Die Standseilbahn führt vom Dresdner Stadtteil Loschwitz hinauf zum Villenviertel Weißer Hirsch, Schauplatz von Tellkamps "Der Turm"Bild: picture-alliance/dpa/M. Hiekel

Kritiker und Literaturwissenschaftler haben Dutzende der Romanfiguren realen Vorbildern zugeordnet und DDR-Größen wie die Schriftsteller Hermann Kant, Stephan Hermlin, Peter Hacks und Stefan Heym erkannt. Im Bezirkssekretär Barsano findet sich der Politiker Hans Modrow wieder, im Rechtsanwalt Sperber der zwischen DDR und BRD vermittelnde Jurist Wolfgang Vogel.

Ein Bildungsroman im klassischen Sinne

Tellkamp hat der eigentlichen Romanerzählung - wie einem Musikstück - eine "Ouvertüre" voran- und ein "Finale" nachgestellt. In beiden geht es um das Motiv der Zeit, versinnbildlicht in Uhren und ihrem Schlag. In der Märchenwelt des "Turms" scheint die Zeit stillzustehen. Hier in der "Pädagogischen Provinz", wie der Autor den ersten Romanteil überschrieb, lebt das Erbgut deutscher Hochkultur weiter.

Selbst eine banale Geburtstagsrede wird mit Goethe aufpoliert: "'Verehrter Jubilar, verehrte Gattin, Angehörige, Kollegen und Gäste. Schon Goethe sagte, dass die Fünfzig im Leben eines Mannes ein Datum von besonderer Bedeutung sei.'" Der Roman ist durchsetzt von Zeugenschaften dieses ungebrochenen kulturellen Erbes, die nicht immer mit so feiner Ironie aufgerufen werden. Seien es die Dresdner Romantiker, Richard Wagner, E.T.A. Hoffmann oder Thomas Mann, der mit Tonio Kröger angeführt wird, sich aber auch im gesamten Werk wiederfindet: als die "Buddenbrooks der DDR".

Tellkamp hat sein Opus Magnum nicht auf die Welt des Turms beschränkt. Deren Figuren entwickeln sich und geraten mit dem System aneinander. Denn da gibt es auch noch das fiktive "Ostrom", in dem die Nomenklatura lebt. Christian, der Medizin studieren möchte wie sein Vater, verpflichtet sich für zwei zusätzliche Jahre Dienst in der Nationalen Volksarmee. Eine höllische Erfahrung, als er den Befehl verweigert, gegen Demonstranten, unter denen er auch seinen Bruder vermutet, vorzugehen.

Dreharbeiten 2011 "Der Turm" mit Jan Josef Liefers
Dreharbeiten zu "Der Turm" im sächsischen GörlitzBild: picture-alliance/dpa/J. Trenkler

Eine rückwärts gewandte Utopie

Und es gibt auch noch die irrealen Elbinseln, fantastische Orte, an denen Schmetterlinge die Lüfte beleben. Nur sehr selten kommen diese Orte der Utopie mit der 'realen' Romanwelt in Berührung.

Tellkamp gelingt es, ein Land, das es längst nicht mehr gibt, mit seinen Hoffnungen und Utopien, seinen Redeweisen, seinem immateriellen Erbe, seinen Machtstrukturen und seiner Geografie literarisch wiederauferstehen zu lassen. Man riecht es, fühlt es und denkt es mit, selbst wenn man die DDR nicht aus eigener Anschauung kannte.

So wie im Märchen der Schluss: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" beruhigend beschwört, dass es ja weitergeht, erinnert Tellkamps ans Ende gesetzter Doppelpunkt daran, dass wir als Leser ja schon wissen, wie die Geschichte nach dem Mauerfall verlief: nicht durchweg beruhigend.

Der Schriftsteller hat angekündigt, auch seine Version der Geschichte der Nachwendejahre zu erzählen. Dieses Buch steht noch aus. Unter Umständen wird er sich dafür einen neuen Verlag suchen müssen, nachdem er sich im Frühjahr 2018 mit flüchtlingskritischen Äußerungen in die Nähe der Neurechten stellte. Suhrkamp hat sich daraufhin von seinem Bestsellerautor distanziert. Man darf gespannt sein, wie Tellkamp sich erneut zum Teil seiner eigenen Geschichte machen wird.

 

Uwe Tellkamp: "Der Turm" (2008), Suhrkamp Verlag

Uwe Tellkamp wurde 1968 in Dresden geboren, studierte in Leipzig, New York und Dresden Medizin und arbeitete als Arzt an einer unfallchirurgischen Klinik. 2000 erschien sein Debütroman "Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Cafe". Nachdem er 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, gab Tellkamp die Medizin auf und lebt seitdem als freier Schriftsteller. "Der Turm" erhielt neben dem Deutschen Buchpreis auch den Deutschen Nationalpreis und andere Auszeichnungen, wurde 2010 in verschiedenen Inszenierungen fürs Theater adaptiert und 2012 als Zweiteiler fürs Fernsehen verfilmt.