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Warum Menschen trotz Ukraine-Krieg nach Russland zurückgehen

Irina Chevtayeva
5. Oktober 2023

Nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine und der Ankündigung einer Mobilmachung haben im Jahr 2022 Hunderttausende Russland fluchtartig verlassen. Aber einige sind wieder zurückgekehrt. Wie sehen sie ihre Zukunft?

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Roter Platz und Basilius Kathedrale in Moskau
Einige Menschen, die Russland wegen des Krieges in der Ukraine verlassen hatten, zieht es zurück in die HeimatBild: Achim Scheidemann/dpa/picture alliance

Nach dem Beginn des umfassenden Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 ist Kira zunächst nach Georgien und dann nach Israel gegangen. Anna, ebenfalls eine Russin, ging zur gleichen Zeit nach Armenien. Und Jurij verließ Russland im Herbst 2022. Nachdem Präsident Wladimir Putin in Russland eine Mobilmachung angekündigt hatte, fuhr er schnell nach Kasachstan.

Alle diese Gesprächspartner der DW verurteilen Russlands Krieg gegen die Ukraine, sind aber trotzdem mittlerweile wieder in die Russische Föderation zurückgekehrt. Ihre Namen wurden von der Redaktion aus Sicherheitsgründen geändert.

"Die Wunden in meiner Seele müssen noch heilen"

Kira ist 27 Jahre alt. Ihre Ausreise nach Georgien im Frühjahr 2022 begründet sie so: "Ich sah es damals als unmöglich an, weiter in Russland zu bleiben." Von Georgien aus reiste Kira nach Israel weiter, wo sie eine Universität besuchte, in einem Wohnheim unterkam und ein Stipendium erhielt. Dieses wurde ihr aber im Sommer stark gekürzt, und arbeiten darf die junge Frau in Israel nicht. Daher bewarb sie sich auf eine Stelle in einer Organisation in Russland. "Ich möchte mich beruflich weiterentwickeln, habe dazu eine Chance bekommen und sie ergriffen", betont sie.

Viele Menschen mit Gepäck laufen die Straße entlang
September 2022: Russen auf dem Weg zur Grenze zu GeorgienBild: Shakh Aivazov/AP/picture alliance

Wegen ihres neuen Jobs kehrte Kira nach Russland zurück. An der israelischen Hochschule bleibt sie aber weiterhin eingeschrieben. "Die Wunden in meiner Seele müssen noch heilen und ich bemühe mich, nicht in große Städte zu fahren. Ich verspüre in mir einen großen Widerstand gegen das, was in Russland passiert, und oft möchte ich einfach nur die Augen davor verschließen. Doch Israel erwies sich für mich als ein schwieriges Land", sagt sie.

"Es war eine Flucht vor mir selbst"

"Armenien war bei mir eine impulsive Entscheidung. Aber dort wurde mir klar, dass es nicht darum ging, dass ich in diesem Land sein wollte, sondern es war eine Flucht vor mir selbst", erzählt Anna über ihre Ausreise aus Russland im April 2022. Sie ist 31 Jahre alt, von Beruf Managerin im Bereich Marketing und könnte im Homeoffice arbeiten. Aber nach einigen Monaten entschied sie sich, Armenien wieder zu verlassen. "Es geht darum, nach Russland zurückzukehren und zuzugeben, dass man auch selbst Verantwortung mitträgt", sagt Anna.

Was ihre Entscheidung angeht, fügt sie hinzu: "Ich möchte nicht, dass alle einhellig Krieg für normal halten. Jemand wird die Straße entlang gehen und sagen: 'Krieg ist doch normal'. Aber ich bin jemand, die darauf antworten wird: 'Nein. Bist du völlig verrückt?'" Anna gesteht, dass sie durchaus Ängste quälen, betont aber zugleich: "Über lange Zeit darf man nicht in Angst leben".

"Meine Freundin hat mich praktisch rausgeworfen"

Jurij, ein Programmierer, sagt, zu Beginn des Krieges sei er nicht in Panik geraten und die Mobilmachung habe ihm auch keine Angst gemacht. "Aber meine Freundin machte sich große Sorgen, konnte nicht richtig schlafen und hat mich praktisch aus dem Haus geworfen", erzählt er und fügt hinzu, "Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Doch wir sagten uns, zurückkehren könne ich immer, aber eine Ausreise sei vielleicht nur jetzt noch möglich."

Jurij verbrachte mehrere Monate in Kasachstan, dann noch einige in Kirgisistan. "Wir dachten, die Lage werde sich bald lösen, und wir wollten noch die zweite Mobilmachung abwarten. Ich lebte mit sechs Männern in einer Mietwohnung. Aber auch nach einem halben Jahr änderte sich nichts, nur dass der Rubel weiter absackte, die Lebenshaltungskosten stiegen und einige in meinem Umfeld nach Russland zurückgingen", erinnert sich Jurij.

Im Winter kehrte auch er zurück. "Ich habe Russland nicht vermisst. Aber ich wollte nach Hause, wieder in meine Wohnung", sagt er. Zudem leben in Russland seine Eltern, ein behinderter Bruder und seine Freundin, mit der er seit 13 Jahren zusammen ist.

Mindestens zwei Auswanderungswellen

Im Jahr 2022 verließen nach Schätzungen von Demografen, die auf Statistiken der Gastländer und Mitteilungen von Behörden basieren, 500.000 bis 800.000 Menschen Russland. Es kam zu zwei Auswanderungswellen: unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine und nach der Ankündigung der Mobilmachung in Russland.

"Viele Menschen sind nicht in die Länder gelangt, in die sie eigentlich wollten. Die meisten haben mindestens einmal das Land gewechselt. Das Maximum, das ich gehört habe, ist, dass ein junges Paar insgesamt in sechs Ländern war", sagt die in Moskau lebende Soziologin Ljubow Borusjak im Gespräch mit der DW. Ihr zufolge sind viele Menschen in Ländern, von denen sie nie gedacht hätten, dass sie dort landen würden, praktisch ohne Papiere und mit sehr wenig Geld angekommen. "Ein Teil dieser Menschen ist später zumindest für eine Weile nach Russland zurückgekehrt", so Borusjak.

Eine Gruppe von Menschen steht an einer Straßenecke im Zentrum von Tiflis oder sitzt auf Bänken
Russen im September 2022 im Zentrum von TiflisBild: Alexandr Burakow/DW

Nach Angaben des Forschungsteams "OutRush", das eigene Umfragen unter russischen Emigranten durchführt, sind 16 Prozent derjenigen, die das Land nach dem 24. Februar 2022 verlassen hatten, wieder in die Russische Föderation zurückgekehrt. Zwei Drittel von ihnen gaben an, nur vorübergehend zurückgekehrt zu sein.

Wohin geht es das nächste Mal?

Jurij erzählt, dass er und seine Freundin lange darüber nachgedacht hätten, Russland zu verlassen, aber nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Das Paar befindet sich derzeit in der Schwebe. Jurij gibt zu: "Wir würden gerne in Russland leben, aber das Problem ist das Regime und seine Politik."

Seit ihrer Rückkehr ist Anna sehr traurig darüber, dass für die Menschen in Russland das Leben einfach nur weitergeht. "Mir kommt es vor, als wäre ich in einem Film, in dem jeder nur so tut, als sei alles normal. Für mich ist es manchmal sehr schwierig und sehr traurig zu sehen, wie sich die Dinge zum Schlechteren verändern", beklagt sie. Anna gibt sich ein Jahr Zeit, um Russland wieder zu verlassen. Sie möchte entweder nach Berlin oder nach Bali.

Auch Kira denkt darüber nach, wohin es das nächste Mal gehen soll. Zu ihren Überlegungen zählen die USA, Kanada, Großbritannien und Deutschland.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk