1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die anarchischen Jahre in Berlin

Wladimir Kaminer
8. November 2020

Der russisch-deutsche Autor Wladimir Kaminer lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Er denkt noch gerne an die wilde Zeit in Berlin kurz nach der Wende zurück.

https://p.dw.com/p/3koCM
Symbolbild Party | Diskokugel
Bild: picture-alliance/dpa/C. Soeder

Es geht mir gut. Seit 30 Jahren lebe und arbeite ich in Berlin, bin beruflich als deutscher Schriftsteller tätig, privat aber ein Russe geblieben. Das heißt, ich mache vorher keinen Termin, wenn ich meine Mutter besuchen möchte, laufe nicht in Straßenschuhen durch die Wohnung und schaue nicht in die Mülltonnen, um zu prüfen, ob meine Nachbarn ihren Müll trennen. Meine Nachbarn tun es, denn Ordnung muss sein.

Zuhause reden wir nur Russisch, wir schauen manchmal sogar russische Nachrichten, obwohl wir wissen, dass sie mit Vorsicht zu genießen sind. Was soll's, meine Heimat hatte schon immer ganz andere Nachrichten als der Rest der Welt. Und trotzdem fühle ich mich deutsch, ich bin in beiden Kulturen zu Hause. Deutschland und ich, wir sind in diesen 30 Jahren einen langen Weg gegangen und haben uns beide sehr verändert.

1990: von Moskau nach Berlin

Wladimir Kaminer
Wladimir Kaminer denkt gerne an die anarchischen Berlin-Jahre zurückBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture-alliance

Am liebsten erinnere ich mich an den Beginn der 1990er-Jahre, an die Zeit der Anarchie. Ich kam im Juni 1990 aus Moskau nach Ost-Berlin, viele Häuser standen leer, ihre Bewohner haben damals in Eile ihre Wohnungen verlassen, sie gingen in den Westen, weil sie dachten, die Mauer würde bestimmt bald zurückkommen, die ganze Wiedervereinigung hielten sie für ein Missverständnis, da haben die Russen wohl nicht aufgepasst, haben sich nicht eingemischt, vielleicht hatten die Panzerfahrer der sowjetischen Armee, die in Deutschland stationiert waren, gerade keinen Sprit gehabt.

Möglicherweise hatten sie ihre ganzen Dieselvorräte an die ostdeutschen Bauern verhökert. Ein Freund von mir aus den alten Zeiten, ein sowjetischer Panzerfahrer, der bei Neuruppin gedient hatte und nach der Wiedervereinigung politisches Asyl in Berlin beantragte, erzählt noch heute gerne, dass die Offiziere tatsächlich den Sprit in großen Mengen an die ostdeutsche Bevölkerung verkauften. Sie waren verunsichert, wussten nicht, was sie in der Heimat nach dem Abzug aus Deutschland erwartet, und brauchten einen Notgroschen für die dunkle Zeit.

Ende der Sowjetunion; Neuanfang in Deutschland

Eine Schlange von Menschen wartet auf den Erhalt von Lebensmittelpaketen 1989 in Berlin
Nach dem Mauerfall gab es für Ostberliner LebensmittelpaketeBild: imago/imagebroker

Die Sowjetunion steuerte schon damals eindeutig in Richtung Kapitalismus, der Kalte Krieg sollte endgültig beigelegt werden, es war unklar, ob es für die Offiziere in dieser nebelreichen Zukunft überhaupt einen Platz geben würde. Also verkauften sie alles, was sie nicht mehr brauchten. Sie verkauften Baumaterialien, Heizkörper, Uniformen, Sprit, sie hätten wahrscheinlich auch den Panzer verkauft, wenn sie einen Abnehmer dafür gefunden hätten. Doch die Ostdeutschen waren gerade auf ihre friedliche Revolution so stolz, sie wollten keine Panzer haben, nur Sprit.

Mein Freund, der Panzerfahrer, hat später politisches Asyl bekommen, eine Umschulung gemacht und arbeitet bei der Telekom. "Deutschland ist meine Heimat", sagt er, hier sind alle meine Träume in Erfüllung gegangen.

Deutschland: sauber und diszipliniert

Auf dem Weg hierher stellte ich mir Deutschland als ein ordnungsliebendes Land vor, diszipliniert und sauber, die Menschen kommen zum Bier trinken nie zu spät und die Straßenbahnen halten an jeder Haltestelle von allein an. Wenn es zu langweilig wird, kann ich jederzeit weiter nach Frankreich oder nach Italien ziehen, so dachte ich.

Geschlossene Pakete von Kaminbriketts aus der Lausitz
In Ostberlin wurde mit Briketts geheizt, was für einen besonderen Geruch sorgteBild: DW / Selina Byfield

Doch Berlin entzückte mich mit seiner Anarchie. Die Stadt atmete die Luft der Freiheit, es roch nach Marihuana und Stickstoffen, die bei der Verbrennung von Kohlebriketts entstanden. Diese besonders krass stinkenden Kohlebriketts, die sich Berliner zum Heizen aus den verwahrlosten fremden Kellern klauten, rieche ich noch heute manchmal, wenn ich nachts durch die Dörfer Brandenburgs fahre.

Partyleben in Berlin nach der Wende

Das wiedervereinigte Berlin und ich, wir waren jung und voller Energie. Die Einwohner der besetzten Häuser veranstalteten jede Woche Partys auf den Hinterhöfen, man brauchte keine Genehmigung vom Gesundheitsamt, um Bier auf der Straße zu verkaufen, der Autohandel blühte auf, die Westdeutschen kauften sich neue Fahrzeuge, ihre alten gebrauchten Autos konnten sie gewinnbringend an die Ostdeutschen verkaufen, die verkauften ihre Ladas an die Russen. Ein Auto, das innerhalb eines Jahres nicht mindestens drei Mal seinen Besitzer wechselte, galt als extrem uncool.

Eine chinesische Imbissverkäuferin verkauft einem Mädchen Essen
Imbisse verkauften in Berlin Ente - oder doch Tauben?Bild: Imago Images/Sven Simon

Die Ausländer integrierten sich innerhalb von wenigen Tagen ins städtische Leben, sie mischten sich überall ein. Die Vietnamesen verkauften voller Enthusiasmus nicht verzollte Zigaretten unter den Brücken und eröffneten die ersten chinesischen Restaurants. "Ente süß-sauer" und "grüner Jasmin-Tee mit Pflaumenschnaps" waren die Renner. Für die Ostdeutschen bedeutete das einen Durchbruch in die Welt der globalen Gastronomie. Früher dürften sie die Ente nur zu Weihnachten essen, auf einmal hatten sie Weihnachten jeden Tag und das zum Spottpreis von 9,90 DM! Böse Zungen munkelten allerdings, dass viele dieser preiswerten Enten in Wahrheit bloß Stadttauben waren.

Chinesische Imbisse, afrikanische Tanzbars

Die Afrikaner aus Angola und Mosambik eröffneten die Tanzbars, dort konnte man tanzen und trinken lernen. Die Russen korrumpierten die Wohnungsgesellschaften, sie schmierten die Beamten und konnten mit einem Wohnberechtigungsschein riesige Wohnungen zu Spottpreisen ergattern. Die Kaufhallen wurden täglich mit Westwaren gefüllt, die Verkäuferinnen konnten sich nicht mehr merken, wie all die Käsesorten und Konfitüren hießen, sie sagten einfach "Ham wa nischt", wenn man nach Unbekannten verlangte.

Polizisten räumen das letzte Haus in Berlin und steigen über eine Leiter durchs Fenster ein
Eines der letzten, ehemals besetzten Häuser in Berlin wurde Anfang Oktober geräumtBild: Christophe Gateau/dpa/picture-alliance

Die Finanzierung des anarchischen Lebens war ebenfalls gut gesichert. Man musste einmal im Monat zum Sozialamt gehen und bekam ohne lange Gespräche 500 Mark bar auf die Hand, manchmal kamen noch Extras für warme Kleidung und Kinobesuche dazu. Vor den zahlreichen Telefonzellen standen die Russen, die Afrikaner und die Vietnamesen Schlange. Telefonieren mit der Heimat war umsonst, man brauchte dafür bloß eine Telefon-Angel: die Einwurfmünze wurde an einer Angelschnur mit Klebeband befestigt, man musste sie vorsichtig hochziehen, jedes Mal wenn das Telefon "Klick" machte. Die Menschen hatten viel zu erzählen, die Wartenden in der Schlange wurden ungeduldig, permanent beschimpften sie einander. "Hört auf zu quatschen, geht doch nach Angola zurück!", hörte man und "Grüß mir deinen Onkel Ho". "Na, hat Gorbi aufgelegt?", bekamen die Russen gesagt.

Geordnete Welt der BRD löste sich kurz in Wohlgefallen auf

Die Deutschen schauten sich diesen ganzen Zirkus an und rieben sich ungläubig die Augen. Ihre kleine gemütliche Welt mit einem klar gezeichneten Eingang und Ausgang löste sich wie ein Phantom auf.

Der ganze Spaß hat ziemlich lange gedauert, bis das wiedervereinigte Deutschland sich wieder zusammenraufte und anfing, die Ordnung wiederherzustellen. Alle Menschen, die in den Häusern ohne richtige Papiere wohnten, bekamen ordentliche Mietverträge, die Mieten schnellten sofort in die Höhe, die Zigaretten wurden den Vietnamesen abgenommen und verzollt, die Telefonzellen abgebaut, die Enten in den chinesischen Restaurants nach ihrer Herkunft geprüft.

Die Sozialämter wurden in Jobcenter umgewandelt, man musste auf einmal jeden Monat 30 Unterschriften von den potenziellen Arbeitgebern sammeln, die dich nachweislich abgelehnt haben. Diese Regelung hat viele Existenzen zerstört, die Menschen mussten neue Lebensentwürfe entwickeln, viele sind tatsächlich studieren oder gar arbeiten gegangen. Einige von ihnen sind stur geblieben und versuchen noch immer das bedingungslose Grundeinkommen durchzusetzen. Deutschland hat zu seiner berühmten Ordnung zurück gefunden. Erst vor kurzem wurde das letzte besetze Haus leergeräumt. Nur die Erinnerung an die Zeiten der Anarchie ist geblieben.