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Wie Rassismus krank macht

9. Januar 2024

Blicke, Sticheleien und Aggressionen erleben viele Menschen mit Migrationshintergrund täglich. Nicht nur psychische Erkrankungen, auch Bluthochdruck und Übergewicht können Folgen rassistischer Diskriminierung sein.

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Mecklenburg-Vorpommern | Flüchtlinge vor Erstaufnahmeeinrichtung
Keine Privatsphäre, keine Beschäftigung und Diskriminierungserlebnisse - in Sammelunterkünften leidet die psychische Gesundheit besonders.Bild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Meryam Schouler-Ocak kennt sie selbst, diese Blicke. "Neulich in der Bahn saß ich zwei älteren Damen gegenüber, die mich die ganze Zeit von oben bis unten gemustert und angestarrt haben." Zuerst dachte Schouler-Ocak, sie habe irgendwo einen Fleck, einen offenen Knopf oder so etwas. Doch da war nichts. Sie ist lediglich dunkelhaarig, und sie ist türkischstämmig.

"Mikroaggressionen" nennt Schouler-Ocak solche Formen der rassistischen Diskriminierung. "Viele Menschen mit Migrationshintergrund, dunkler Haut- oder Haarfarbe erleben sie fast täglich", sagt die Professorin für interkulturelle Psychiatrie und Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie der Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. 

Abschätzige Blicke, dumme Sprüche oder Sticheleien - rassistische Diskriminierungen dieser Art akkumulieren sich und können krank machen. "Das kann sich bis hin zum posttraumatischen Belastungssyndrom und anderen psychiatrischen Erkrankungen entwickeln", sagt Schouler-Ocak.

Depressionen und Angststörung durch Rassismus

Wie jede Form der Diskriminierung - ob Sexismus oder Antisemitismus - zielt auch Rassismus darauf ab, zu verletzen. Im Fall von Rassismus werden Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder anderer genereller Zuschreibungen abgewertet und ausgegrenzt. 

Das erleben Betroffene nicht nur im zwischenmenschlichen Kontakt durch geringschätziges oder aggressives Verhalten anderer. Sogenannter struktureller und institutionalisierter Rassismus benachteiligen Menschen beispielsweise bei der Wohnungssuche oder auf dem Arbeitsmarkt. Wer dunkle Haut habe, ein Kopftuch oder einen fremdklingenden Namen trage, dessen Karten stünden schlechter, so Schouler-Ocak.

Wie entsteht ein Trauma?

Ständig erlebte Verletzungen bleiben für die Betroffenen nicht ohne Folgen: "Rassistische Diskriminierung hat einen signifikanten Effekt auf die Gesundheit", sagt Meryam Schouler-Ocak. Menschen, die diese Art von Diskriminierung erleben, würden doppelt so häufig an psychiatrischen Erkrankungen leiden wie die Menschen ohne diese Erfahrungen.

Angststörungen, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörung, Suchterkrankungen oder Psychosen - das Risiko für solche Erkrankungen steigt. Das liege daran, dass rassistische Diskriminierungen die Gehirnaktivität beeinflusse, sagt Schouler-Ocak. "Es kommt zu Dysregulationen in bestimmten Hirnarealen, so wie bei psychiatrischen Erkrankungen auch."

Hohes Gesundheitsrisiko in Sammelunterkünften

Ein besonders großes Risiko haben Menschen, die beispielsweise nach der Flucht aus ihrer Heimat in Sammelunterkünften landen, so die Psychiaterin, die u.a. zu interkultureller Migrationsversorgung forscht.

Zum Trauma der Flucht und der Trennung von Freunden und Familie kommen weitere Stressfaktoren: keine Beschäftigung, keine Privatsphäre und diskriminierende Erfahrungen. "Solche Erlebnisse, die auf eine Flucht folgen, haben einen kumulativen Effekt", sagt Schouler-Ocak. Je mehr, desto schlimmer.

Die Psychiaterin ist der Meinung, dass die Häufigkeit und die Tragweite psychischer Erkrankungen generell unterschätzt wird. Im Falle von Menschen, die geflüchtet sind, sei das Problem noch größer. 

Dabei kommt eine psychische Erkrankung selten allein. Der durch rassistische Diskriminierung erlebte Stress kann auch zu körperlichen Problemen führen: Bluthochdruck und Übergewicht seien häufige Symptome, so Schouler-Ocak. Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen können folgen. "Schwangere haben ein höheres Risiko für Frühgeburten und Kinder, mit niedrigem Geburtsgewicht”, sagt die Psychiaterin über weitere Folgen rassistischer Diskriminierung.

Erhöhte Sterblichkeit durch Diskriminierung

All das führt zu einer erhöhten Sterblichkeit bei den Betroffenen, wie auch eine aktuelle Studie im Fachmagazin "Lancet Psychiatry" beschreibt. Die Forschenden hatten untersucht, wie Rassismus die psychische Gesundheit schwarzer Menschen in den USA beeinflusst.

Obwohl die Datenlage noch dünn ist, gibt es außerdem Hinweise darauf, dass rassistische Diskriminierung nicht nur der Gesundheit der direkt Betroffenen schadet, sondern auch die der Kinder und Enkel beeinträchtigen kann. Die Epigenetik befasst sich mit diesem Einfluss von Umweltfaktoren auf die Aktivität der Gene.

Ist das amerikanische Gesundheitssystem rassistisch?

"Rassismus und rassistische Strukturen sind historisch gewachsen und deshalb auch eng mit Gesellschaften verwachsen", sagt Schouler-Ocak. Bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International heißt es: "Ob gewollt oder ungewollt - die meisten weißen Menschen handeln im Alltag rassistisch." Es sei deshalb wichtig, sich der der verschiedenen Formen von Rassismus bewusst zu werden, um Verhalten und Sprache entsprechend anpassen zu können.

DW Mitarbeiterportrait | Julia Vergin
Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.