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PolitikUkraine

Kiew: Bloß keine Wahlen während des Krieges

8. November 2023

Eigentlich stünden in der Ukraine Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Doch wegen des russischen Angriffs hält Präsident Wolodymyr Selenskyj sie für nicht durchführbar. Das sorgt für Diskussionen.

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Eine Frau wirft ihren Stimmzettel in eine Wahlurne vor dem Hintergrund einer ukrainischen Flagge
Ein Urnengang in Kriegszeiten? Das ist in der Ukraine umstritten Bild: Getty Images/AFP/S. Gapon

"Ich glaube nicht, dass jetzt die richtige Zeit für Wahlen ist", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videobotschaft am 6. November. Seiner Meinung nach sei es in Zeiten des Krieges, in denen es unzählige Herausforderungen gibt, "absolut unverantwortlich, einfach so, leichtfertig und pokernd, in der Gesellschaft Wahlen zum Thema zu machen".

Vorausgegangen war eine innenpolitische Debatte darüber, ob Russlands Krieg gegen die Ukraine Wahlen im Land unmöglich mache. Schließlich sollten regulär Ende Oktober dieses Jahres Parlamentswahlen und im März nächsten Jahres Präsidentschaftswahlen abgehalten werden. 

Widersprüchliche Signale des Präsidenten

Bereits im Sommer machte Wolodymyr Selenskyj in einem Interview deutlich, dass er die Durchführung von Wahlen in der Ukraine unter Kriegsbedingungen skeptisch sehe. Wahllokale müssten dazu auch in Frontnähe errichtet werden, Wahlbeobachter auch "in den Schützengräben" zugegen sein. Später sagte Selenskyj gegenüber dem portugiesischen Fernsehen, dass er bei Präsidentschaftswahlen anträte, falls diese noch vor Kriegsende stattfänden. Im Oktober erklärte er schließlich dem italienischen Fernsehsender Sky TG24: Sollten das ukrainische Parlament und die Regierung Antworten auf alle Herausforderungen finden, dann könnten Wahlen auch unter geltendem Kriegsrecht abgehalten werden.

Präsident Wolodymyr Selenskyj steht in seinem Amtszimmer während einer Videoansprache
Testet Präsident Wolodymyr Selenskyj die öffentliche Meinung?Bild: president.gov.ua

Die verwirrende und wechselnde Rhetorik des Präsidenten hält Oleksij Koschel, Vorsitzender der NGO Wählerkomitee der Ukraine, für "eine Vorgehensweise, die für Selenskyjs Team seit 2019 typisch ist: Erst werden Statements verbreitet, um die Reaktion der Öffentlichkeit einschätzen zu können", so Koschel gegenüber der DW. Die Regierung gab sich "willig, Wahlen abzuhalten. Doch Umfragen haben gezeigt, dass die Ukrainer derzeit dazu nicht bereit sind."

Einer dieser Umfragen des Kiewer Internationalen Institutes für Soziologie (KIIS) zufolge sind derzeit 81 Prozent der Befragten der Meinung, dass Wahlen nach dem Krieg und nicht jetzt abgehalten werden sollten. Dies sei für Selenskyjs Team eine "kalte Dusche" gewesen.

Wer drängt auf Wahlen?

Dabei ist es in der Ukraine sogar gesetzlich verboten, Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen unter Kriegsrecht abzuhalten. Dieses wurde im Februar 2022 verhängt und seitdem immer wieder verlängert. Aber warum wird dann in der Ukraine überhaupt eine öffentliche Debatte darüber geführt?

Petro Oleschtschuk, Politikwissenschaftler an der Kiewer Taras-Schewtschenko-Universität, vermutet, dass die westlichen Partner der Ukraine Selenskyj zu Wahlen drängten. "Sie wollen ihren Bürgern sagen können: Schaut, wir unterstützen einen demokratischen Staat und demokratische Werte."

Bereits im Mai sagte der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), Tiny Kox, dass die Ukraine trotz des Krieges Wahlen organisieren sollte, da die Charta des Europarats sie dazu verpflichte. Und im August äußerte sich der republikanische US-Senator Lindsey Graham während eines Besuchs in Kiew ähnlich. "Ich möchte, dass in diesem Land freie und faire Wahlen stattfinden, auch wenn es angegriffen wird. Es war in der Vergangenheit ein sehr korruptes Land. Das amerikanische Volk sollte wissen, dass sich die Ukraine verändert hat."

Die Ukraine werde zu Wahlen gedrängt, um Vorwürfe zu vermeiden, dass sie sich womöglich allmählich in eine Diktatur verwandeln könnte, glaubt Wolodymyr Fesenko, Leiter des ukrainischen Zentrums für angewandte politische Forschung Penta. Oft werde in dem Zusammenhang das Argument angeführt, dass selbst in Russland Wahlen stattfänden. Tatsächlich halte die Regierung in Kiew den jetzigen Zeitpunkt für den besten, um Wahlen abzuhalten, da es praktisch keine politischen Konkurrenten zum Amtsinhaber gebe. "Je länger sich der Krieg hinzieht, desto stärker werden die Umfragewerte für Selenskyj und die regierende Partei Diener des Volkes sinken. Deshalb wollen sie jetzt Selenskyjs Beliebtheit in Wählerstimmen umwandeln", erläutert Fesenko. Dem jedoch stehen die Bedenken vieler Ukrainer gegenüber, dass ein Wahlkampf zu viele Kräfte bündele, die eigentlich zur Landesverteidigung benötigt werden. Zudem befinden sich derzeit Millionen geflüchteter Ukrainer und Ukrainerinnen im Ausland, was einen Urnengang zusätzlich erschweren würde.

Fesenkos Einschätzung nach könnte bei Präsidentschaftswahlen derzeit nur der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, mit realistischen Chancen gegen Selenskyj antreten, da die ukrainische Gesellschaft ihn enorm schätze. Allerdings habe Saluschnyj bislang nie politische Ambitionen gezeigt. Er werde sich wohl auch nicht zur Wahl stellen, da er seine Zukunft in der Armee sehe. Alle anderen möglichen Präsidentschaftskandidaten liegen nach Meinung des Politikwissenschaftlers in der Wählergunst weit abgeschlagen zurück.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk