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"Ultraorthodox" von Akiva Weingarten

Sarah Judith Hofmann
22. März 2022

In seiner Autobiographie erzählt Akiva Weingarten, warum er die ultraorthodoxe Gemeinschaft der Satmarer Juden verließ. Und was ihm das Judentum heute bedeutet.

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Rabbiner und Buchautor Akiva Weingarten
Akiva Weingarten, Rabbiner der jüdischen Gemeinden von Dresden und BaselBild: Stephan Pramme

An seinem ersten Schultag wird der kleine Akiva Weingarten auf den Schoß des Rabbiners gesetzt. Er nimmt ein laminiertes Blatt und bestreicht die Buchstaben Alef, Mem und Taf des hebräischen Alphabets mit Honig. Zusammen stehen sie für das Wort "emet" - Wahrheit. "Jetzt darf ich den Honig von dem Blatt lecken", erinnert sich Weingarten in seiner Autobiographie. "Akiva! Nimm dies zum Zeichen, dass die Worte der Torah wahr und so süß wie Honig sind", sagt der Lehrer, der zugleich ein Rabbiner ist.

Doch so süß wie diese sind nur die wenigsten Erinnerungen von Akiva Weingarten, der als ältestes von elf Geschwistern in der Gemeinschaft der Satmarer Chassidim im amerikanischen Lakewook, New Jersey, aufwächst. Für ihn ist es vor allem eine Welt voller Regeln. Eine Welt, in der zuerst der rechte und dann der linke Schuh angezogen werden muss, denn die rechte Hand symbolisiert die Gnade Gottes und ist der linken vorzuziehen. Daher darf auch das Toilettenpapier nicht in die rechte Hand genommen werden, denn dies ist die Hand, an der die Gebetsriemen - die Tefillin - getragen werden.

Buchcover Ultraorthodox Mein Weg von Akiva Weingarten
"Ultraorthodox" von Akiva Weingarten

"Man muss es sich so vorstellen wie einen Blick ins 18. Jahrhundert", sagt Weingarten im DW-Interview über die Welt der Satmarer Juden. "Alles ist dort vollkommen anders: Die Kleidung, die Sprache, Essen, Gesänge, Denkart, Kontrolle, Gleichberechtigung, alles ist ein paar Jahrhunderte zurückgeblieben."

"Das sind keine richtigen Juden"

Es ist eine Gemeinschaft, die sich hermetisch von der Moderne abschottet - und von allem, was nach den ultraorthodoxen Regeln nicht "rein" ist. In der Satmarer Gemeinschaft gibt es eigene Zeitungen, eigene Schulen, eigene Handwerksbetriebe und Bäckereien, Modegeschäfte und Buchläden, Supermärkte, einen eigenen Rettungs- und einen eigenen Sicherheitsdienst.

Als einer der wenigen nicht-jüdischen Kinder der Nachbarschaft Akiva zum Spielen einlädt, bekommt er zu hören, dies sei kein Umgang für ihn. "Er und seine Eltern sind Goyim, Nichtjuden." Dies ist Erklärung genug. Über nicht-ultraorthodoxe Juden bekommt er zu hören: "Das sind keine richtigen Juden!"

Akiva Weingarten beschreibt in seinem Buch "Ultraorthodox" anschaulich, wie der Alltag dieser ultraorthodoxen Gemeinde in den USA aussieht, er erklärt aber auch für Nichtjuden (oder Nicht-Ultraorthodoxe), woher sich diese Regeln ableiten.

Israel, Bnei Berak: Ultraorthodoxe Juden feiern das jüdische Fest "Tu biSchevat" (2022)
Israel, Bnei Berak: Ultraorthodoxe Juden feiern das jüdische Fest "Tu biSchevat" (2022)Bild: Ariel Schalit/AP/picture alliance

"Wir, das sind die Chassidim, die Gottesfürchtigen. Die 365 Verbote und 248 Gebote, die der Ewige den Menschen in der Torah, den fünf Büchern der Hebräischen Bibel, gab, und die unzähligen Weisungen, die Moshe in der Mischna, der mündlichen Torah von Gott am Berg Sinai erhielt, geben unserem Leben Orientierung. Sinn unserer Existenz ist es, diese Mizwot zu erfüllen; sie so in unserem Leben zu verwirklichen, dass zwischen unserem Tun und Gottes Willen kein Unterschied mehr ist."

Ursprünglich war dies nicht als "sklavische Gesetzestreue" gemeint, so Weingarten, sondern als ein spirituelles Streben nach Einheit, nicht nur für den Einzelnen, sondern nach der Vollkommenheit der Welt. Erst wenn "die Juden als das erwählte Volk Gottes die Mizwot vollständig befolgen", wird der "ersehnte Maschiach, der Messias" kommen.

Vom Rabbiner geohrfeigt - fürs Masturbieren

Doch je älter er wird, desto weniger akzeptiert Akiva die Regeln. Als Teenager masturbiert er - obwohl er weiß, dass dies streng verboten ist - und wird dafür öffentlich vom Rabbiner geohrfeigt. Doch es bewirkt das Gegenteil: Gemeinsam mit einigen Mitschülern befriedigt er einen älteren Ultraorthodoxen sexuell in einem Hotel - die Jugendlichen prostituieren sich für Geld. Und geben dieses Geld kurz darauf ihrerseits für die Dienstleistungen einer Prostituierten aus. Im Interview muss er bei der Erinnerung daran lachen. "Es war wie im Gefängnis. Man redet nicht darüber, aber man hat sexuelle Bedürfnisse und tut etwas zusammen."

Deborah Feldman beim DW-Panel "Jüdisches Leben in Deutschland" (2021)
Deborah Feldman beim DW-Panel "Jüdisches Leben in Deutschland" (2021)Bild: JAN ROEHL/DW

Nach dem Bestseller "Unorthodox" (2012) von Deborah Feldman ergänzt Weingarten den männlichen Blick auf die strenge Sexualmoral der Ultraorthodoxen - wenn auch nicht auf dem hohen literarischen Niveau von Feldman. Auch sie wuchs in der Gemeinschaft der Satmarer Juden in New Jersey auf und beschrieb in ihrem Buch unter anderem, was es für sie als junges Mädchen und als Frau bedeutete, verheiratet zu werden, ohne zuvor jemals den eigenen Körper entdeckt zu haben.

Auch für Weingarten wird die arrangierte Ehe zum Desaster. Mit 20 Jahren heiratet er in Israel ein ehemaliges Waisenmädchen, gemeinsam leben sie im ultraorthodoxen Bnei Brak, unweit von Tel Aviv. Innerhalb kurzer Zeit wird er zwei Mal Vater, fühlt sich seiner Frau jedoch völlig fremd. "In den letzten Monaten vor meinem Austritt hatte ich manchmal das Gefühl, mental vergewaltigt zu werden - aber gezwungen zu sein, mich mehrfach am Tag mit meinem Vergewaltiger, den die Gemeinschaft 'Gott' nannte, treffen zu müssen, um ihn anzubeten und zu loben."

Die Großmutter überlebte Auschwitz - der Enkel geht nach Berlin

Weingarten beschließt, Israel zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Ausgerechnet in das Land der Täter des Holocaust. "Mein Großvater hasste alles Deutsche", schreibt er in "Ultraorthodox". "Nie wäre ihm eine Waschmaschine von Bosch oder Miele ins Haus gekommen. Und weil Hitler einen Mercedes gefahren hatte, war dies für ihn stets die Automarke des Führers - eine Haltung, die mein Vater heute noch genauso pflegt."

Die Großeltern sind ungarische Juden. Die Großmutter überlebte Auschwitz, der Großvater überstand ein anderes Konzentrationslager, beide sprechen kaum über ihre Erfahrungen. Im DW-Interview sagt Weingarten: "Bei uns wurde über Deutschland nur im Kontext des Holocaust gesprochen. Sprach man von Deutschland, meinte man Nazideutschland. Die Deutschen waren immer die Bösen. Und sie sind es auch heute noch für viele Ultraorthodoxe. In Israel und in Amerika, wo es Nachkommen von Überlebenden gibt, ist dieses Thema bis heute sehr präsent."

Damals, so Weingarten, sei die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, eine sehr praktische gewesen. "Ich hatte kein Geld und wollte studieren." In Deutschland ist dies ohne große Gebühren möglich. Und er dachte, Jiddisch, seine Muttersprache, die viele Gemeinsamkeiten mit dem Deutschen aufweist, würde es ihm leichter machen. Es sei nicht als Provokation gemeint gewesen, sehr wohl aber als ein Wegrennen. "Weiter weg als Deutschland kann man nicht gehen. Wegen der Geschichte." Die lasse ihn auch bis heute nicht los. "Gestern habe ich eine ziemlich alte Dame auf der Straße gesehen - und mein erster Gedanke war: Was hat sie gemacht vor mehr als 75 Jahren?"

Rabbiner und liberaler Chassidim

Über Antisemitismus in Deutschland heute spricht er jedoch ungerne. "Angst gibt es immer", sagt er. "Aber wir sollten nicht Juden nach Antisemitismus fragen, sondern Deutsche. Die deutsche Polizei, die Regierung und die Bevölkerung sollten sich damit beschäftigen."

Purim-Fest in Jerusalem: Ultraorthodoxe Mädchen in Kostümen (2021)
Purim-Fest in Jerusalem: Ultraorthodoxe Mädchen in Kostümen (2021)Bild: Oded Balilty/AP Photo/picture alliance

Heute pendelt Weingarten zwischen Dresden und Basel, wo er Rabbiner zweier liberaler jüdischer Gemeinden ist. Zum Schabbat trägt er Schtreimel und Kaftan - Kleider, die üblicherweise nur chassidische Rabbiner tragen. In Berlin gründete er einen Verein, um Aussteiger aus ultraorthodoxen Gemeinschaften dabei zu unterstützen, sich außerhalb des streng religiösen Umfelds zu integrieren. "Wir sind nicht mehr orthodox, wir sind nicht wirklich säkular, wir haben eine sehr starke jüdische Identität - aber gleichzeitig würden sich viele Aussteiger nicht als religiös bezeichnen", sagt er. "Obwohl sie Shabbat feiern und beten." Es sei eben kompliziert. 

"Für mich ist Judentum erst mal eine Identität. Es ist ein Ort, wo ich mich zuhause fühle. Ich kann eine Synagoge in Indien oder Finnland besuchen und ich fühle mich zuhause. Das ist unsere Tradition, das ist unsere Geschichte - alles, was uns trägt als Gruppe, als Volk, als Menschen. Es gibt viel Schönes im Judentum, das wir geerbt haben und das es lohnt, weiterzuführen. Für alle Menschen, nicht nur für Juden."