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Ärzte ohne Grenzen: Viele afghanische Kinder schwer krank

Veröffentlicht 16. Februar 2024Zuletzt aktualisiert 17. Februar 2024

Die Gesundheitslage in Afghanistan ist seit der Machtübernahme der Taliban verheerender denn je: weniger Geld, weniger medizinisches Personal. Die Leidtragenden sind vor allem die Kinder.

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Afghanistan | Ärzte ohne Grenzen
Frühgeborene und unterernährte Kinder erkranken schnell schwer und sterben häufigBild: Oriane Zerah

Sobald die Sonne aufging, verließ Nicolas Aschoff das Quartier von "Ärzte ohne Grenzen" und machte sich auf den Weg ins Regionalkrankenhaus in Mazar-i-Sharif im Norden Afghanistans. Bis Sonnenuntergang arbeitete der Kinderarzt mit mehr als 20 lokalen Assistenz- und Fachärzten auf der Kinderintensivstation und in der pädiatrischen Notaufnahme des Krankenhauses. Viele der jungen Patienten und Patientinnen waren schwer krank, die Stationen ständig überfüllt.

"Die Situation war schon vor der Machtübernahme der Taliban schlecht und die Kindersterblichkeit sehr hoch", sagt Aschoff nach seiner Rückkehr aus Afghanistan. Doch seit die Taliban an der Regierung sind, habe sich die Lage nochmal deutlich verschlechtert. "Das liegt vor allem daran, dass die internationale Gemeinschaft weniger Geld zur Verfügung stellt."

Seit August 2023 versucht die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" mit Hilfe des Projektes in Mazar-i-Sharif die desolate Gesundheitssituation von Kindern und Neugeborenen zu verbessern. Es fehlt an Geld und Fachpersonal. Vor allem aber fehlt es den Menschen an ausreichend Nahrungsmitteln.

Humanitäre Krise in Afghanistan

Unterernährte Kinder sterben am häufigsten

"Viele Schwangere sind schon mangelernährt", sagt Aschoff. Die Bedingungen für deren Kinder seien schwer. "Es sind die Frühgeburten und die magelernährten Kinder, die wir am häufigsten verlieren", sagt der Kinderarzt. Für die geschwächten kleinen Körper sei jede Infektion potentiell tödlich. Masern, Tuberkulose oder auch das RS-Virus sind lebensgefährlich.

Die Mediziner behandeln nicht nur viele Krankheiten, deren Hauptursache Armut und Hunger sind. Auch Durchfallerkrankungen durch verunreinigtes Trinkwasser sind an der Tagesordnung. "Vergiftungen durch toxische Substanzen aus den Restbeständen der Streitkräfte wie Farbe, Treibstoff und andere ätzende Stoffe sehen wir ebenfalls sehr häufig", sagt Aschoff.

Kinderkrankenhaus ständig überbelegt

Rund 3000 Kinder kommen jeden Monat in die neu eingerichtete pädiatrische Notaufnahme des Krankenhauses. Die Station für schwerkranke Neugeborene bietet Platz für 27 Babys - allerdings ist sie ständig überbelegt: oft müssen in den Bettchen und Brutkästen über 60 Kinder, die intensivmedizinisch betreut werden, gleichzeitig untergebracht werden. "Gerade für Infektionskrankheiten ist das ziemlich ungünstig", sagt Aschoff. Auch die Qualität der Behandlung leide, wenn die Stationen permanent überfüllt sind.

Mit Hilfe eines sogenannten Triagesystems schätzen Ärzte die Schwere der Erkrankung ein und entscheiden, welche Kinder auf der Intensivstation für Säuglinge behandelt werden müssen und welche auf der normalen Kinderstation behandelt werden können. "Das ist eine gängige Praxis in jeder Notaufnahme und nicht zu verwechseln mit der Not-Triage, über die während der Corona-Pandemie viel die Rede war", erklärt Aschoff. Alle Kinder würden medizinisch versorgt.

Um eine Priorisierung vornehmen zu können, werden den Kinder verschiedene Farben zugewiesen, die Auskunft über ihren Gesundheitszustand geben. "Grün triagierte Kinder sind nicht ernsthaft krankt, deshalb verweisen wir sie an einen lokalen Kinderarzt", erklärt Aschoff. "Gelbe Kinder" bleiben im Krankenhaus und werden von `Ärzte ohne Grenzen´ behandelt. Um die schwersten Fälle, die rot triagierten Kinder, hat sich Nicolas Aschoff selbst gekümmert oder seine lokalen Kollegen und Kolleginnen in der Akutbehandlung angeleitet.

Wenn Aschoffs Schicht im Krankenhaus zu Ende war, kümmerte er sich im Quartier der Hilfsorganisation um die Ausbildung lokaler Ärzte und Ärztinnen. "Ziel von `Ärzte ohne Grenzen´ ist, sich überflüssig zu machen", sagt der Mediziner. Damit das funktionieren kann, arbeitet die Organisation mit dem Gesundheitsministerium zusammen. Auch das ist mittlerweile von den Taliban geführt.

Zusammenarbeit mit Taliban schwierig, aber notwendig

Wenn "Ärzte ohne Grenzen" das Krankenhaus und das Land wieder verlässt, wollen sie sichergestellt wissen, dass die aufgebauten Strukturen weiterbestehen, damit kranke Kinder behandelt werden können. Das funktioniere nur mit Rückendeckung durch die Taliban-Regierung.

Afghanische Mädchen sehnen sich nach Schule

Erschwert wird diese Zusammenarbeit unter anderem dadurch, dass die Taliban den Frauen ein Berufsverbot erteilt haben. Die Leitlinien von "Ärzte ohne Grenzen" sehen allerdings vor, keinerlei Geschlechterunterschiede zu machen. Frauen gehörten zu Aschoffs Ärzteteam dazu und nehmen genau wie ihre männlichen Kollegen an den Fortbildungen teil.

Zwar seien Frauen, die im medizinischen Bereich arbeiten, teilweise vom Berufsverbot ausgenommen, sagt Aschoff. "Dennoch war das Thema Gegenstand andauernder Diskussionen." 

Nicolas Aschoff glaubt dennoch, dass die Arbeit in der Klinik auch dann fortgesetzt werden kann, wenn "Ärzte ohne Grenzen" das Projekt für beendet erklärt und sich zurückzieht. "Die afghanischen Kollegen sind unglaublich motiviert und haben eine gute Ausbildung", sagt Aschoff.

Allerdings sei es ebenso wichtig, dass dem afghanischen Gesundheitswesen genügend Geld zur Verfügung steht, um kranke Kinder behandeln zu können, so Aschoff. "Die internationale Gemeinschaft sollte Afghanistan nicht die Hilfe entziehen", findet der Kinderarzt.

DW Mitarbeiterportrait | Julia Vergin
Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.