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PolitikFrankreich

Unruhen in Frankreich - Aufwind für die Rechten?

Lisa Louis
4. Juli 2023

Seit dem Tod des 17-jährigen Nahel erschüttern Unruhen viele Städte in Frankreich. Die Ausschreitungen könnten der Rechtsaußen-Partei Rassemblement National Zulauf verschaffen.

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L'Hay-les-Roses, Frankreich | Unruchen nach Poliziegewalt
Wie viel Gleichheit gibt es in der französischen Gesellschaft? Auch darum geht es in der aktuellen Krise des Landes Bild: Firas Abdullah/AA/picture alliance

Auch wenn die Gewalt auf den Straßen langsam abzuebben scheint: Von Normalität kann in vielen französischen Städten noch nicht die Rede sein. Nachdem der 17-jährige Nahel bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre von einem Polizisten erschossen wurde, brach sich vielerorts in Frankreich die Wut auf den Staat und seine Institutionen Bahn; erst recht, seitdem ein Video in den sozialen Netzwerken erschien, welches klar zu zeigen scheint, dass der Polizist nicht zur Selbstverteidigung handelte.

Die Gewalt entlädt sich vor allem gegen die Symbole der Republik, Polizeiwachen, Schulen und insbesondere gegen Rathäuser. Bisheriger Höhepunkt war der Angriff auf das Wohnhaus des Bürgermeisters von L'Haÿ-les-Roses im Großraum Paris. Unbekannte hatten mit einem schweren Fahrzeug das Portal durchbrochen und Brandsätze gezündet. Die Frau des Bürgermeisters verletzte sich, als sie mit ihren beiden kleinen Kindern aus dem Haus fliehen wollte.

Mehrere Frauen stehen, sichtlich ernst und betroffen, auf dem Rathausplatz im französischen Persan
In vielen Städten folgten Menschen dem Aufruf, sich vor den Rathäusern zu versammeln, um ein Zeichen gegen die anhaltenden Gewalt auf den Straßen zu setzen Bild: Yves Herman/REUTERS

Die Justiz ermittelt wegen versuchten Mordes. Diesen Montag gab es anlässlich des Vorfalls in zahlreichen Städten Solidaritätskundgebungen vor den Rathäusern. Seit Beginn der Ausschreitungen gab es landesweit mehr als 3000 Festnahmen. Aus diesem Chaos könnte vor allem die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) Nutzen ziehen.

(Un-)geteilte Solidarität mit der Familie des 17-jährigen Nahel?

Viele französische Politikerinnen und Politiker verurteilten die Erschießung des 17-jährigen Nahels klar - allen voran Präsident Emmanuel Macron, der die Tat als "unerklärlich" und "unverzeihlich" bezeichnete. Die politische Mitte und die Linke stimmten mit ein. François Ruffin, Abgeordneter der Linksaußen-Partei La France Insoumise, forderte, die gesamte Nation solle sich solidarisch mit einer Mutter zeigen, "deren 17-jähriger Sohn aus nächster Nähe erschossen wurde, obwohl er in keiner Weise eine Gefahr darstellte".

In einer Menschenmenge ist ein Schild mit den Worten "Justice for Nahel" zu sehen
Der Tod des 17-jährigen Nahel brachte viele Menschen auf die Straße - auch zu friedlichem Protest, wie hier in Paris am 30. Juni 2023Bild: Eliot Blondet/picture alliance/abaca

Aber nicht aus allen Parteien kommt uneingeschränkte Solidarität mit Nahels Familie. Eric Ciotti, Präsident der konservativen Partei Les Républicains (LR), sicherte dieser zwar in einem Tweet seinen "Beistand" zu. Doch den versprach er auch der Polizei, und fügte hinzu, man solle zunächst das Ergebnis der Untersuchung abwarten, bevor man den Polizisten verurteile. Schon zwei Tage nach dem Vorfall forderte der Politiker von der Regierung, angesichts der Unruhen den Ausnahmezustand auszurufen. Dieser gibt Behörden weitreichende Rechte, etwa die Versammlungsfreiheit einzuschränken oder Hausdurchsuchungen durchzuführen.

Der Rassemblement National und die "Strategie der Krawatte"

Damit ging Ciotti deutlich weiter als Marine Le Pen, Kandidatin des Rassemblement National in den vergangenen zwei Präsidentschaftswahlen und nun Fraktionsvorsitzende der Partei in der Nationalversammlung. Sie bezeichnete die Aussagen Macrons zwar als "exzessiv" und unterstrich ebenfalls, man müsse auf die Ergebnisse der Ermittlungen gegen den Polizisten warten. Doch den Ausnahmezustand sollte man nur verhängen, wenn sich die Situation weiter verschlimmere, so Le Pen.

Benjamin Morel, Dozent für öffentliches Recht an der Universität Paris Panthéon-Assas, nennt das eine "Krawatten-Strategie". Seit einigen Jahren versuche der Rassemblement National, sich gemäßigt zu zeigen, so Morel. "Sie tragen überall Krawatten und Anzüge, etwa in der Nationalversammlung, und sie fallen nicht mehr - wie zuvor - durch sehr radikale Aussagen auf. "In der aktuellen Krise ist der RN fast auf einer Linie mit Macron", sagt der Dozent im Gespräch mit der Deutschen Welle.

"Denn in Frankreich können sie, anders als in anderen Ländern, wie zum Beispiel Deutschland, nicht durch Koalitionen an die Macht kommen. Sie müssen bei der Präsidentschaftswahl auf Platz eins landen und deswegen sehr viele Wähler auf ihre Seite ziehen."

"Der RN fährt eine Doppelstrategie"

Manche Mitglieder des RN führen aber weiterhin eine harte Linie, ergänzt Gilles Ivaldi, Politologe am Pariser Forschungszentrum Cevipof der Universität Institut d'études politiques in Paris. Er nennt RN-Parteichef Jordan Bardella als Beispiel. Der 27-jährige Bardella, der selbst aus einer Einwandererfamilie stammt, spricht von einer "Verrohung der Gesellschaft als Konsequenz einer komplett irrsinnigen Immigrationspolitik" und verspricht, alle "ausländischen Verbrecher" des Landes zu verweisen, sollte der RN bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 gewinnen.

Fraktionschefin Marine Le Pen (l.) und Jordan Bardella stehen nach der Wahl Bardellas zum Parteichef des Rassemblement Naional am 05.11.2022 gemeinsam auf einer Bühne
Aufgabenteilung beim Rassemblement National: Fraktionschefin Marine Le Pen (l.) gibt sich gemäßigt, Parteichef Jordan Bardella als Scharfmacher (Archivbild)Bild: Alain Jocard/AFP/Getty Images

"Die Partei fährt eine Doppelstrategie, bei der sie sowohl ihre traditionellen, extremen Wähler, als auch potenzielle Neuwähler bedient, welche sich Sorgen um ihre Sicherheit machen und im RN eine nun durch Le Pen scheinbar akzeptable Partei sehen, die die Ordnung wiederherstellt", so Politologe Ivaldi im DW-Gespräch.

"Für den RN sind immer die Einwanderer Schuld"

Dabei habe der Rassemblement National nach wie vor ein rassistisches Programm, sagt Sylvain Crepon, Dozent für Politikwissenschaften an der Universität Tours in Zentralfrankreich. "Die Partei will jeglicher Zuwanderung von außerhalb Europas ein Ende setzen, und ist klar gegen die Werte von Integration und Gleichheit", sagt er der DW. Das sei so bekannt, dass die Partei gar nicht mehr darüber sprechen müsse.

"Selbst wenn Marine Le Pen dies nicht explizit erwähnt, wissen alle, dass für ihre Partei immer Einwanderer an der Kriminalität in Frankreich Schuld sind. Wenn andere Politiker wie Ciotti das gleiche sagen, hilft das nur dem RN, denn die Wähler stimmen lieber für das Original als für eine Kopie", so Crepon. Diese Strategie scheint langsam aber sicher aufzugehen: In der entscheidenden Stichwahl der Präsidentschaftswahlen vergangenes Jahr kam auf Le Pen immerhin schon auf 41,5 Prozent der Stimmen. 2017 waren es noch 34 Prozent.

Die drei Forscher sind sich einig, dass auch die aktuelle Krise den Rechtsextremen Aufwind geben könnte. Darauf scheint auch das Ergebnis zweier Online-Spendenaufrufe hinzudeuten: Für die Familie des erschossenen Nahel sind bisher etwas über 260.000 Euro zusammengekommen -  für die des Polizisten, der geschossen hat, mehr 1,2 Millionen Euro.

Reformen gegen die Risse in der französischen Gesellschaft nötig

Die französische Regierung reagiert in der aktuellen Krise wie auch auf den möglichen Aufwind, den die extreme Rechte in Frankreich aus diesem ziehen könnte, in erster Linie mit den Mitteln des Rechtsstaats, wie sie betont.

Aus einer aufgebrachten Menschenmengen werden im französischen Nizza Feuerwerkskörper in die Richtung von Polizeikräften geworfen
Nächtelang wurden viele französische Innenstädte von gewaltsamen Protesten erschüttertBild: Cyril Dodergny/picture alliance/dpa/MAXPPP

"Wir haben die Polizeipräsenz verstärkt und sind in Kontakten mit lokalen Behörden und Vereinen und auch mit der Familie von Nahel. Während andere radikale Lösungen vorschlagen, wollen wir eine Spaltung der Gesellschaft vermeiden", sagte ein Regierungssprecher diesen Montag in einem Hintergrundgespräch mit den Medien auf eine entsprechende Frage der DW. Die Regierung habe schon sehr viel für die Vororte getan, müsse jedoch ein Defizit von Jahrzehnten aufholen, so der Sprecher des Elysée-Palastes.

Dem widerspricht allerdings Michel Kokoreff, Professor für Soziologie an der Universität Paris Vincennes-Saint-Denis, der als Experte der Situation in den Vororten gilt. "Das ist schlichtweg falsch. Die Regierung hat unter anderem 2018 einen geplanten 48-Milliarden-Euro-Aktionsplan für die Vororte einfach abgesagt", sagt er der DW.

Michel Kokoreff, Professor für Soziologie an der Universität Paris, steht auf einer Straßenkreuzung in Paris
Fordert grundlegende Reformen in Frankreich: Michel Kokoreff, Professor für Soziologie an der Universität ParisBild: Lisa Louis

"Der einzige Weg, den Rechten etwas entgegenzusetzen, ist, die Risse in der Gesellschaft zu kitten, so dass es künftig nicht mehr zu Unruhen in den Vorstädten kommt. Dafür wären grundlegende Reformen nötig, zum Beispiel eine Polizeireform, auch um Polizeieinheiten in den Vororten zu haben, die täglich mit den Bewohnern in Kontakt sind."

Doch selbst wenn die Regierung von Präsident Emmanuel Macron entsprechende Reformen tatsächlich in Angriff nehmen sollte - diese würden Zeit brauchen, um Wirkung zu zeigen. Bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aber sind es nur noch vier Jahre.

Solidaritätskundgebungen in Frankreich